Vorbei an Leerständen und Obdachlosen: Redakteur Jonas Füllner hat mit dem neuen Leiter des Bezirks Mitte eine Runde durch St. Georg und zum Hauptbahnhof gedreht. Was Ralf Neubauer anders machen will.
Von so einem Arbeitsweg können andere nur träumen: Unterwegs bester Blick auf Hafen und Hamburger Skyline. Nie im Stau, sondern schnell am Ziel. „Nur beim Hafengeburtstag steckte ich mal fest“, sagt Ralf Neubauer und schmunzelt. Der 40-Jährige lebt in Finkenwerder und entert täglich die Hafenfähre 62, um zur Arbeit zu fahren. Denn Mitte Januar hat der Rechtsanwalt im Bezirksamt Mitte in der Caffamacherreihe die Nachfolge von Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) angetreten.
Neubauer ist in diesen Tagen auf Entdeckungstour. Heute: Thema Obdachlosigkeit. Startpunkt: das Hinz&Kunzt-Haus. Neubauer zeigt sich begeistert vom neuen Arbeits- und Wohngebäude. Am Ausgang nicken ihm Verkäufer:innen freundlich zu. Der Bezirkschef grüßt höflich, dass ihn niemand erkennt, stört ihn scheinbar nicht. Wie sollte es auch anders sein? Selbst Expert:innen der Hamburger Lokalpolitik war der Sozialdemokrat bis vor Kurzem kein Begriff. Die „Mopo“ bezeichnete ihn gar als „Polit-Nobody“. Dabei engagiert sich der Familienvater bereits sein halbes Leben für die SPD, zuletzt als Abgeordneter in der Bürgerschaft. Im Jurastudium lernte Neubauer den heutigen Innensenator Andy Grote (SPD) kennen und zog in dessen Wohngemeinschaft auf St. Pauli. Später verschlug es ihn auf die andere Elbseite. „Ich komme vom Land. In Finkenwerder fühle ich mich mit meiner Familie wohl“, sagt Neubauer. Seine Projekte dort: eine bessere ÖPNV-Anbindung für die Rüschhalbinsel und der Umbau der ehemaligen Hafenbahntrasse zum Radweg.
Dafür wird ihm künftig wohl die Zeit fehlen. „Ich bin jetzt immer weniger Herr über meine eigenen Termine“, sagt Neubauer, den für gewöhnlich der bezirkliche Fahrdienst von Termin zu Termin kutschiert. An diesem grauen Februarmorgen geht es aber zu Fuß durch den Bezirk: eine Runde mit Hinz&Kunzt durch St. Georg und vorbei am Hauptbahnhof – dort, wo Armut und Obdachlosigkeit Tag und Nacht sichtbar sind.
Am Hansaplatz treibt der Wind eine leere Bierflasche über den Boden. Sie bleibt an einem der Poller hängen, die vor einem Jahr für Empörung sorgten. Weil Trinker:innen sie als Sitzgelegenheit nutzen, setzte der Bezirk runde Kugeln auf die Pfosten. „Menschenverachtend“ nannte der Einwohnerverein St. Georg diese Art der Vertreibung. Dass sich hier einer der Brennpunkte des Bezirks befinden soll, lässt sich heute jedoch nicht erkennen. Es ist kalt und nass, der Platz wie leergefegt.
Konflikte rund um den Hansaplatz gebe es ja schon lange, sagt Neubauer. Statt eine fertige Antwort zu präsentieren, zeigt er auf die Nordseite des Platzes. „Wenn wir schon mal hier sind. Dort drüben soll ein Leerstand sein.“ Der Platz ist schnell überquert, das leere Geschäft entdeckt. Neubauer holt sein Smartphone raus und fotografiert. Dabei erläutert er, dass der Vermieter bislang nicht überzeugt werden konnte, die Fläche für eine soziale Beratungsstelle an die Stadt zu vermieten. „Alle reden immer davon, dass man etwas tun muss, und dann bekommt man nicht einmal die Räumlichkeiten dafür“, sagt Neubauer kopfschüttelnd.
Neubauer sucht das Gespräch wegen Leerständen
Sein Vorgänger Droßmann hätte jetzt vielleicht mit verschränkten Armen und ernstem Blick für die Kamera vor dem Laden posiert und markige Worte in Richtung der Vermieter:innen formuliert. Leerstands-Spekulant:innen auf dem Kiez drohte er einst großspurig mit Zwangsenteignung. Ankündigungen, denen allerdings keine Taten folgten.
Sein Nachfolger geht Konflikte anders an. Mit dem Eigentümer führe man Gespräche, sagt Neubauer. Es sei nun einmal nicht leicht, Flächen im Stadtzentrum zu finden. Nicht nur in diesem Fall, allgemein habe er nur „eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten“. Schließlich sei der finanzielle Rahmen durch den Senat klar gesetzt. Im Unterschied zu Berlin hätte seine Verwaltung eben keine Hoheit über ein eigenes Budget. Spielraum gebe es aber, wenn es ums Wohnen geht. Unter anderem bei der Vergabe von Baugenehmigungen und bei Umbauten. „Aber als Bezirksamtsleiter ist man an Recht und Gesetz gebunden, auch wenn einem das in manchen Einzelfällen nicht immer gefällt“, stellt Neubauer klar.
So hätten gerade einige von Verdrängung bedrohte Mieter:innen in Hamm von ihm erwartet, dass er eine Genehmigung zur Zweckentfremdung nicht erteile. Begründung: Der Hauseigentümer habe ihnen bei dem anstehenden Abriss zu teure Ersatzwohnungen angeboten. „Die Entscheidung wurde hoch und runter geprüft, ich habe es mir auch selbst noch einmal angeguckt“, sagt Neubauer. Aus rein politischen Gründen eine Genehmigung zu verweigern, sei nicht seine Art: „Unsere Entscheidungen müssen am Ende vor dem Verwaltungsgericht Bestand haben.“
Aber wenn die Verdrängung von Mieter:innen so schwer zu stoppen ist und es nicht einmal gelingt, einen Beratungsraum für zwei Sozialarbeiter:innen am Hansaplatz anzumieten, sind dann nicht hehre Ziele wie die Abschaffung der Obdachlosigkeit bis 2030 völlig unrealistisch? Darauf hatten sich die Sozialminister:innen aller Bundesländer im vergangenen Jahr verständigt. „Ich finde das durchaus ehrgeizig“, sagt Neubauer. „In Hamburg haben sich die Obdachlosenzahlen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.“
Leise Kritik an der Sozialbehörde beim Thema Obdachlosigkeit
Der Neue in Mitte setzt auf „Housing First“. Dieser vor allem in Finnland verbreitete Ansatz verfolgt diese Strategie: Erst die Wohnung, dann Stabilität im Leben. In Hamburg gelten eher die Grünen als die SPD-geführte Sozialbehörde als Befürworter:innen dieses Konzepts. „Ich habe bezüglich Housing First eine gewisse Zurückhaltung wahrgenommen“, bestätigt Neubauer und lässt leise Kritik durchklingen. So verweise die Sozialbehörde auf das bestehende Hilfesystem, das gut aufgestellt sei. „Das fand ich eine interessante Antwort“, sagt Neubauer. „Ich hingegen weiß nicht, ob unsere Hilfesysteme niedrigschwellig genug sind.“
Es wäre nicht das erste Mal, dass Neubauer auf Distanz zu Parteichefin und Sozialsenatorin Melanie Leonhard geht. Bereits im Streit zwischen der Behörde und Hinz&Kunzt um eine Tagesöffnung des Winternotprogramms erläuterte er der Senatorin seine Sicht der Dinge: Hinz&Kunzt hatte bei der Anwaltskanzlei Neubauers ein Gutachten beauftragt. Das Ergebnis war eindeutig: Einer Öffnung der Unterkünfte am Tage stehe nichts entgegen. „Dazu stehe ich weiterhin“, sagt der Bezirksamtschef. Aber: Die Entscheidung obliege der Sozialbehörde.
„Ich glaube, Zäune lösen keine Probleme.“
Zwei von drei Unterkünften des Winternotprogramms liegen inzwischen nicht mehr im Stadtkern. Die meisten Obdachlosen, die auf der Straße schlafen, sieht man aber im Zentrum – und somit im Bezirk Mitte. Das führt nicht selten zu Konflikten. Zum Beispiel ließ ein Gymnasium in der Wohlwillstraße auf St. Pauli kürzlich einen überdachten Vorplatz einzäunen. Um Obdachlose zu vertreiben, die offen Drogen konsumierten und gewalttätig waren, wie der Schulleiter gegenüber Hinz&Kunzt ausführte. Öffentlich forderte er Hilfe vom Bezirk ein. Derartige Politikschelte sei ihm zu billig, entgegnet Neubauer. Die Schule habe sich nicht an den Bezirk gewandt. Und dass man am Ende auf keine andere Idee kam, als einen Zaun aufzustellen, habe ihn gewundert. „Ich glaube, Zäune lösen keine Probleme“, sagt Neubauer.
Deshalb versuche der Bezirk nun, Unterstützung für die Obdachlosen bereitzustellen. Man habe bereits Gespräche mit einem Träger, der vor Ort vermitteln kann und gute Kontakte zu Trägern der Wohnungslosenhilfe hat, aufgenommen. „Für diese Arbeit möchten wir auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen“, sagt Neubauer. Es wäre aber wohl eher eine Ausnahme. Grundsätzlich seien die Ressourcen im Bezirk begrenzt, stellt Neubauer klar. „Es ist wie mit einer zu kurzen Bettdecke. Egal, in welche Richtung man zieht, ein Bein liegt immer frei.“