Am Sonntag endete das Winternotprogramm. Für die obdachlosen Marcelo und Laura, Gina und Daniel beginnt damit eine ungewisse Zeit.
Ein Montagnachmittag Anfang April, es schüttet wie aus Eimern. Der Wind drückt die nass und nasser werdenden Klamotten gegen die Haut, es ist genau die Art Hamburger Wetter, bei der man keinen Hund vor die Tür jagt. „Uns macht das nichts aus, das ist für uns ein ganz normaler Tag“, sagt Hinz&Kunzt-Verkäufer Marcelo. Der 42-jährige Lette lehnt sich an einen Fahrradständer unter der S-Bahn-Brücke in Hammerbrook, hier regnet es nur seitlich herein. Büroangestellte hasten vorbei in ihren Feierabend, die Augen aufs Smartphone gepinnt. Kaum jemand nimmt Notiz von dem großen, schlanken Mann mit der Brille und seiner schüchtern wirkenden Begleiterin, die sich auf
ihrem Rollator abstützt.
Marcelo und Laura warten darauf, dass es 17 Uhr wird und sie wieder ins Winternotprogramm in der Friesenstraße hineingelassen werden. Noch haben sie eine Bleibe für die Nacht, gemeinsam mit gut 300 anderen Obdachlosen. Doch wenn der städtische Erfrierungsschutz Ende April schließt, stehen die beiden wieder auf der Straße. Auch die Sozialarbeiter:innen bei Fördern&Wohnen (F&W) konnten dem Pärchen bislang keine Wohnung vermitteln, berichtet Marcelo. Man habe ihnen gesagt, dass zwar theoretisch die Möglichkeit bestünde. „Aber zurzeit könnt ihr es vergessen“, habe es geheißen.
„Das Winternotprogramm ist ein Erfrierungsschutz. Selbstverständlich werden dort keine Jobs oder Wohnungen vermittelt“, sagt F&W-Sprecherin Susanne Schwendtke. Dafür gebe es andere Einrichtungen des Hamburger Hilfesystems. „Unsere Mitarbeitenden nennen den obdachlosen Menschen die richtigen Stellen, an die sie sich wenden können, und helfen auch bei Terminvereinbarungen“, so die Sprecherin „Perspektivberatung“ nennt sich das. Marcelo und Laura sehen für sich derzeit jedoch nur eine Perspektive: „Zeltchen aufbauen“, sagt Marcelo. Er checkt gerade ein paar Orte aus. Laura, die bisher während des gesamten Gesprächs geschwiegen hat, sagt jetzt auch etwas: „Ich wünsche mir nur einen Ort, an dem ich nicht frieren muss.“
Ein Hotel als Notunterkunft
Hinz&Kunzt-Verkäufer Daniel schläft im ehemaligen Hotel in der Halskestraße in Billbrook, das die Stadt vergangenen Herbst angemietet hat. Hier gibt es Platz für rund 300 Obdachlose, die in Einzel- und Doppelzimmern mit eigenem WC und Dusche untergebracht sind. Eine gute Sache sei das, sagt der Rumäne. Das findet auch Stephan Karrenbauer, politischer Sprecher von Hinz&Kunzt: „Dass die Stadt ein Hotel angemietet hat, um Obdachlose in Einzelzimmern unterzubringen, ist ein Quantensprung“, sagt er.
Problematisch findet er jedoch, dass auch dort jede Nacht sehr viele obdachlose Menschen in einem Haus untergebracht werden: „Es tut niemandem gut, jeden Abend mit mehreren hundert Menschen zusammenzukommen, die sich in einer Extremsituation befinden. Ich glaube, die Konfrontation mit der eigenen Krise hindert viele daran, ins Winternotprogramm zu gehen“, so Karrenbauer.
Die Perspektivberatung hilft auch Daniel nicht wirklich weiter. „Ich habe keine Meldebescheinigung und kein Geld für Miete“, sagt der Obdachlose. Auf Nachfrage hätten ihm die Sozialarbeiter:innen gesagt: „Du musst dich um Papiere und Job selbst kümmern. Und dann um eine Wohnung. Dabei können wir dir nicht helfen.“ F&W-Sprecherin Susanne Schwendtke möchte das ebenso wenig kommentieren wie die Schilderungen von Marcelo und Laura: „Wir können nicht überprüfen, ob und wenn ja, in welchem Zusammenhang unsere Mitarbeitenden sich so geäußert haben.“ Daniel würde sich gern neue Ausweispapiere ausstellen lassen, aber er hat kein Geld für die Fahrt nach Berlin. Also bleibt er in Hamburg. Und macht wieder Platte.
Wohnunterkunft als Dauerzustand
Was erst einmal gut klingt: 730 Obdachlose hat die Stadt 2020 und 2021 aus dem Notprogramm in städtische Wohnunterkünfte vermitteln können. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Voraussetzung für einen Platz ist jedoch, dass die Betroffenen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Und da fallen viele Zugewanderte raus, die sich mit Gelegenheitsjobs oder Betteln über Wasser halten.
Angesichts von mindestens 2000 Obdachlosen (laut Zählung 2018) in Hamburg bedeutet das: Hunderten bleibt nach dem Ende des Erfrierungsschutzes wieder nur ein Leben auf der Straße. Und selbst wer das Glück hat, einen Platz in einer städtische Wohnunterkunft zu ergattern, ist damit noch lange nicht aus dem Schneider: Im Schnitt mehr als vier Jahre lang müssen Menschen in Hamburg inzwischen in einer Unterkunft leben – weil es keine bezahlbaren Wohnungen für sie gibt.
Ein Winter im Container
Gina hat den Winter in einem Container in Bahrenfeld verbracht. Die schlichten, weißen Baucontainer aus Wellblech gelten unter Obdachlosen als Jackpot im Winternotprogramm, weil sie, anders als die Großunterkünfte, mehr Privatsphäre bieten. Beim Kemenate Tagestreff für obdachlose Frauen erfuhr Gina davon. Rund 100 Plätze wurden dieses Jahr verlost, der Andrang war groß. Gina hatte „das erste Mal Glück im Leben“, wie sie sagt. Drinnen im Container hat sie ein Kalenderblatt aufgehängt, auf dem ein gut gebauter junger Kerl mit nacktem Oberkörper posiert. „Man muss es sich ja schön machen“, sagt sie lächelnd.
Anfangs sei es nur etwas gewöhnungsbedürftig gewesen, dass die Toiletten in einem anderen Container untergebracht sind. Morgens traf sie bei ihrem Weg dorthin schon mal auf Passant:innen. „Das war fast so, als würde ich noch auf der Straße schlafen“, sagt Gina. Wenn man mit der gepflegten 50-Jährigen spricht, fällt es schwer, sich dieses Bild vorzustellen. Doch Gina machte bis Ende August Platte: auf einer Yogamatte, die ihr jemand in der Bahnhofsmission geschenkt hat, schlief sie im hell erleuchteten Eingang einer Versicherung.
„Ich bin erst von einem Sofa auf das nächste gezogen, ich kenne ja noch viele Leute hier.“– Gina
Bei einem dampfenden Früchtetee im Container erzählt sie von der Zeit, in der ihr Leben in geregelten Bahnen verlief: Wie sie mit Anfang 20 in Siebenbürgen Maschinenbau studierte, aber nie in diesem Job arbeitete („als Frau war ich damals eine Exotin“), später auf einem Kreuzfahrtschiff anheuerte, ihren Mann traf, zwei Kinder bekam und ein normales Familienleben führte, bis ihre Beziehung zerbrach. Sie fing völlig neu an in Hamburg, arbeitete jahrelang als private Haushaltshilfe, bis plötzlich die Kündigung kam und sie ihre Wohnung nicht mehr halten konnte. „Ich bin dann 2012 wieder zurück nach Rumänien zu meiner Mutter gegangen“, sagt sie. 2021 kam sie erneut nach Hamburg – mit Aussicht auf einen neuen Job: „Aber daraus wurde nichts, wegen Corona“, sagt sie. „Ich bin erst von einem Sofa auf das nächste gezogen, ich kenne ja noch viele Leute hier“, sagt Gina. Aber irgendwann wollten alle ihre Privatsphäre zurück. Die hat Gina in ihrem Container. Bis auf ein paar Regeln – drinnen nicht rauchen, regelmäßig sauber machen – kann sie tun und lassen, was sie will. Sie hat ihren eigenen Schlüssel, muss nicht tagsüber raus wie die Obdachlosen in den Großunterkünften.
Was aber auch Gina fehlt, ist eine Bleibe für die Zeit nach April: „Was kommt, daran will ich lieber gar nicht denken“, sagt sie und wirkt auf einmal sehr ernst. Am liebsten hätte Gina ihre eigene Wohnung. „Aber das wollen ja viele Leute in Hamburg“, sagt sie. Ein Antrag auf eine Umschulung zur Gesundheits- und Altenpflegerin läuft. Wenn sie dafür grünes Licht bekommt, könnte sie sich eine kleine Miete sogar leisten, anspruchsberechtigt wäre sie. Bis dahin heißt es erst einmal: weitermachen. Gina atmet tief durch: „Irgendetwas wird sich ergeben, das hoffe ich.“