Wer im Winternotprogramm übernachtet, muss morgens die Unterkunft verlassen und darf erst abends wiederkommen – ein Grund dafür, dass viele Obdachlose das Angebot nicht nutzen.
An diesem Donnerstagnachmittag im Dezember haben Conny und Ronny es mal wieder beinahe geschafft. Es dämmert bereits, als sie den Container in der Norderstraße verlassen, in dem die Caritas ärztliche Sprechstunden für Obdachlose anbietet. Kälte schlägt den beiden entgegen. Mit großen Schritten gehen sie Richtung Hauptbahnhof, „nach ein paar Freunden gucken“, wie Conny sagt.
Eine knappe Stunde müssen sie noch totschlagen, bevor das Winternotprogramm seine Türen öffnet, bald sieben Stunden sind sie schon unterwegs. Haben morgens gegen halb zehn die Unterkunft verlassen, Post abgeholt im „Herz As“ und etwas Warmes gegessen in der „Markthalle“, seit Corona Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. Und sind ziellos durch die Stadt gelaufen, um sich warm zu halten. Manchmal fahre sie ein paar Stationen S-Bahn, erzählt Conny. Ohne Ticket, wenn das Geld nicht reicht, das sie mit dem Sammeln von Pfandflaschen verdient. „Risiko“, sagt die 43-Jährige trocken.
800 zusätzliche Betten für Obdachlose stellt die Stadt diesen Winter zur Verfügung, bei Bedarf können es noch mehr werden. 100 Plätze bieten die begehrten Wohncontainer. Bis zu 400 Betten stehen wie in den vergangenen Jahren in einem ehemaligen Bürogebäude in der Friesenstraße in Hammerbrook. Hinzu kommen 300 Plätze in einem ehemaligen Hotel in der Halskestraße in Billbrook. Obdachlose, die dort untergekommen sind, sparen nicht mit Lob. „Viel besser als die Friesenstraße!“, sagt etwa Hinz&Kunzt-Verkäufer Daniel, der den Vergleich aus eigener Erfahrung ziehen kann. Doppelzimmer mit eigener Dusche und Toilette, Fernsehen, Internet und gutes Essen: Mit dem Haus in der Halskestraße hat die Stadt zweifellos einen neuen Standard geschaffen. Sogar Einzelzimmer gibt es hier für besonders belastete Menschen.
Nur wenige müssen nicht raus
Das klingt beinahe wie ein Leben in einem richtigen Hotel. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Auch hier müssen die Menschen wie in der Friesenstraße die Unterkunft verlassen und werden erst ab 17 Uhr wieder reingelassen. Nur für sehr kranke Obdachlose gibt es Ausnahmen. Nach welchen Gesetzen die wohl gemacht werden? Wer sich morgens vor die Friesenstraße stellt, sieht jedenfalls Menschen, die sich nur mithilfe von Rollatoren oder Krücken durch die Kälte schleppen, mit viel zu dünnen Kleidern am Leib. Viele husten bemitleidenswert. Und nur wenige erwecken den Eindruck, sie könnten ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen.
Seit Jahren streiten Wohlfahrtsverbände und Hinz&Kunzt für eine Tagesöffnung des Winternotprogramms – vergeblich. Die Stadt verweist darauf, dass die Unterkünfte gesäubert werden müssten. Und dass die Obdachlosen „ihre Tagesstruktur aufrechterhalten“ sollen. Laut Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) geht es für sie darum, „zur Ruhe zu kommen und bei Bedarf mit fremder Hilfe die eigenen Optionen durchzugehen“. Für Conny und Ronny dürften die schönen Worte wie Hohn klingen: An Ruhe sei in einem Dreibettzimmer nicht zu denken. Duschen und Toiletten seien manchmal so dreckig, dass sie sie nicht benutzen mögen. Und Hilfe von den Sozialarbeiter:innen zu bekommen sei nicht einfach, weil die nicht immer zu sprechen seien und morgens die Wachleute drängen würden, die Unterkunft zu verlassen. Eine Tagesöffnung wünschen sich beide, „gerade bei dieser Kälte“, sagt Conny.
Ein Wohncontainer bedeutet Ruhe
Einige Kilometer weiter, auf dem Gelände der Stiftung Rauhes Haus in Horn, kümmern sich Student:innen ehrenamtlich um Obdachlose. Robert gehört zu den rund 100 Menschen, die den Winter in einem eigenen Wohncontainer verbringen können – nachts und wenn er möchte auch tagsüber. „Ich habe Glück gehabt“, sagt der 49-Jährige. „Hier habe ich meine Ruhe.“ Auch wenn Robert gerne und viel lacht: Er durchlebt eine Zeit der Trauer. Zwei Monate ist es her, dass sein älterer Bruder Andrzej gestorben ist, auf der Straße mitten in Hamburg. Am Morgen des 14. Oktober findet eine Passantin den Bruder leblos vor einem Geschäftshaus in der Osterstraße auf. Ein Rettungswagen bringt ihn ins Krankenhaus. Dort können Ärzte nur noch den Tod feststellen. Andrzej ist einer von mindestens 29 Menschen, die vergangenes Jahr in Hamburg auf der Straße verstorben sind – so viele wie nie zuvor.
Laut letzter offizieller Zählung leben rund 2000 Obdachlose auf Hamburgs Straßen. Selbst der Senat geht davon aus, dass die Zahl seitdem gewachsen ist. Mehr als 3000 unterschiedliche Menschen nutzten in vergangenen Wintern das Notprogramm der Stadt – manche sporadisch, manche jeden Tag. Warum diesen Winter bislang vergleichsweise wenige Obdachlose die Unterkünfte aufsuchten, will der städtische Unterkunftsbetreiber Fördern&Wohnen erst im Frühjahr erklären, wenn das Programm ausgewertet wird (siehe Info-Kasten). Fest steht: Zuletzt verbrachten gerade einmal etwas mehr als 500 Obdachlose die Nacht in einer der der Großunterkünfte. Mit anderen Worten: Die Mehrzahl der Menschen schläft weiterhin draußen.
Wie Viktor draußen überlebt
Viktor sitzt auf einer dünnen, zerschlissenen Wolldecke vor einer Bankfiliale in Winterhude. In einer Plastiktüte trägt er Kleidungsstücke mit sich, im Rucksack eine Handvoll „Hinz&Kunzt“-Magazine. Wenn er Glück hat, erzählt der 45-Jährige, kann er ein paar Stunden ungestört im beheizten Vorraum der Bank schlafen. Hat er Pech und der Sicherheitsdienst kommt auf Kontrolltour vorbei, verbringt er die Nacht draußen unter dem Vordach. Einmal habe er im Winternotprogramm geschlafen, erzählt Viktor, wenige Tage sei das her.
Zu dritt in einem Zimmer kann ich nicht zur Ruhe kommen– Viktor
Da hatte eine Passantin den Kältebus gerufen, und der fuhr ihn in die Friesenstraße. Doch die erste Nacht in der Notunterkunft war auch die letzte: Zu voll war es ihm dort. „Zu dritt in einem Zimmer kann ich nicht zur Ruhe kommen“, sagt Viktor. „Alleine wäre besser.“ Weil er Angst hatte, dass er bestohlen wird, habe er nicht mal die Gelegenheit genutzt und geduscht. Von der neuen Unterkunft in der Halskestraße, die so gut sein soll, hat Viktor noch nichts gehört. Vielleicht werde er mal hinfahren und versuchen, dort einen Schlafplatz zu ergattern, sagt er. Der zweifelnde Ton in seiner Stimme verrät: Ob er das schaffen wird, ist ungewiss.
Ronnys Kampf um eine Zukunft
Zwei Tage später, ein Samstagmorgen. Ronny kommt an diesem Tag ohne Conny aus der Unterkunft in der Friesenstraße. „Sie ist seit gestern Abend in Quarantäne.“ Corona-Verdacht. Ronnys Gedanken drehen sich aber vor allem um seine Lebenspartnerin: Schweren Herzens habe er sie nach dem Verlust der gemeinsamen Wohnung in einem Pflegeheim zurückgelassen, in Bremerhaven, der Stadt, aus der er kommt. Wie kann er sie nach Hamburg holen? Wo könnten sie leben? Die Friesenstraße sei kein Ort für sie, sagt er. Doch wie soll er an eine Wohnung kommen? Ronny will sich zunächst offiziell obdachlos melden. Ohne Papiere könne er keinen Hartz-IV-Antrag stellen, habe ihm ein Sozialarbeiter in der Friesenstraße gesagt. Im ersten Anlauf ist der Obdachlose gescheitert: Ein Security-Mitarbeiter habe ihn schon an der Tür des Bezirksamts abgewiesen, erzählt Ronny. Montag will er es erneut versuchen.
Bewertung erst im Frühjahr
„Die Auslastung des Winternotprogramms werden wir erst nach dessen Abschluss bewerten.“ Das sagt der städtische Unterkunftsbetreiber Fördern&Wohnen auf Nachfragen von Hinz&Kunzt. Eine Erklärung für die im Vergleich zum Vorjahr geringe Auslastung des Programms ist somit erst in einigen Monaten zu erwarten. Bemerkenswert: Sogar im ehemaligen Hotel in der Halskestraße waren Mitte Dezember laut F&W sowohl Doppel- als auch Einzelzimmer frei – und das bei nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Auch zur Zahl der Beratungsgespräche will sich F&W erst im Frühjahr äußern. Laut Betreiber gibt es in den beiden Großunterkünften des Notprogramms je acht Sozialarbeiter:innen, außerdem 17 (Friesenstraße) bzw. 14 (Halskestraße) Wachleute.