Immer wieder werden Schlafplätze von Obdachlosen angezündet. Alexandra Küchler hat einen Mann aus seinem brennenden Schlafsack gezogen und betont: Auch Menschen auf der Straße muss man in Not helfen!
Im ersten Moment denkt Alexandra Küchler: Da brennt eine Sporttasche. Sie sieht zwei Männer, die sich von den Flammen entfernen. Ärgert sich, dass Idioten offenbar mal wieder gezündelt haben, zieht ihr Handy aus der Tasche und macht ein paar Aufnahmen. Sie will sie ihrem Freund schicken, um ihrem Zorn Luft zu verschaffen. Die 29-Jährige ist gerade auf dem Weg zur Arbeit auf St. Pauli. Es ist Samstagmorgen, der 18. September, kurz nach 6 Uhr. Im Durchgang, der vom Zirkusweg zum Hotel Hafen Hamburg führt, ist nichts los. Erst als die Rezeptionistin dem Feuer näherkommt, erkennt sie: Da, wo es brennt, richtet sich gerade ein Mensch auf!
Sie habe keine Sekunde gezögert, berichtet Alexandra Küchler. Sie rennt los und zieht dann einen schlaftrunkenen Mann aus seinem brennenden Schlafsack. Der Obdachlose hat sich auf einem U-Bahn-Lüftungsschacht vor der Tagesaufenthaltsstätte Cafée mit Herz ein Schlaflager eingerichtet. Alexandra Küchler löscht das Feuer und fragt, ob alles in Ordnung sei. Der Osteuropäer habe in bruchstückhaftem Deutsch geantwortet: Nichts sei in Ordnung! Er erzählt, dass er gestern zum ersten Mal einen epileptischen Anfall gehabt habe.
Auch Alexandra Küchler ist Epileptikerin. „Das ist nicht so schlimm, alles in Ordnung“, sagt sie zu dem Mann. Der will ihre Hand nicht mehr loslassen. „Du bist mein Engel, du hast mir das Leben gerettet!“, sagt er immer wieder. Keine 30 Sekunden später bekommt er einen Anfall. „In dem Moment ist mir erst klar geworden, was hier passiert ist: Da haben zwei Leute einen Menschen angezündet und billigend in Kauf genommen, dass er stirbt. Vermutlich weil sie gedacht haben: ‚Das ist ja nur ein Obdachloser.‘“ Sie ruft die 112 an und bricht in Tränen aus, als sie erzählen soll, was geschehen ist.
Obdachlose häufiger Opfer von Straftaten
Die Brandstifter entkommen unerkannt. Alexandra Küchler kann sie, obwohl sie nur wenige Meter entfernt an ihr vorbeigehen, kaum beschreiben: Den einen habe sie kurz von der Seite gesehen, den anderen nur von hinten. „In dem Moment habe ich nur auf das Feuer geachtet.“ Die Mordkommission ermittelt, bislang ohne Ergebnisse.
Wenige Tage zuvor war es nahe der U-Bahn-Station Habichtstraße ebenfalls zu einem Feuer gekommen: Hier geriet in der Nacht auf den 8. September eine Holzhütte in Brand, in der ein Obdachloser in den Wochen zuvor gewohnt hat. Auch in diesem Fall ermittelt die Mordkommission. Es sei aber auch nicht ausgeschlossen, dass der Brand auf fahrlässiges Verhalten zurückzuführen sei, so ein Polizeisprecher Mitte Oktober. Der Obdachlose habe den Vorfall jedenfalls unbeschadet überstanden. Wo er nun schlafe, sei nicht bekannt.
Die Rettungstat von Alexandra Küchler auf St. Pauli ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken: Das erste Mal seit zwei Jahren habe sie die Frühschicht übernommen, berichtet sie. Auch den Fußweg vorbei an der Aufenthaltsstätte für Obdachlose, wo das Opfer schlief, wähle sie sonst nie.
Zwei Wochen nach dem Anschlag denkt Alexandra Küchler immer wieder an den Mann: „Wo ist er jetzt wohl, wie geht es ihm? Und wie hat er das Ganze verarbeitet?“ Im Cafée mit Herz ist der Obdachlose nicht bekannt. Laut Polizei stammt er aus der Ukraine und ist 39 Jahre alt. Brandverletzungen habe er nicht erlitten. Wo er seit dem Angriff die Nächte verbringt? Die Nachforschungen von Hinz&Kunzt verlaufen leider im Sande.
„Die Menschen auf der Straße gehören zu den Schwächsten. Denen sollte man einfach helfen.“
Alexandra Küchler hat sich wenige Tage nach dem Anschlag bei Hinz&Kunzt gemeldet. Denn sie hat eine Botschaft, und die möchte sie gerne im Straßenmagazin und nirgendwo sonst verbreiten: Sie habe sich gewundert, wie Bekannte auf ihre Erlebnisse reagierten. Viele hätten offenbar Berührungsängste, gerade in Zeiten von Corona. Meinen, sie hätten sich vielleicht nicht getraut, den Obdachlosen anzufassen. Alexandra Küchler sagt, sie habe in dem Moment keine Sekunde gezögert: „Erste Hilfe zu leisten sollte eine Selbstverständlichkeit sein, egal wen man vor sich hat.“ Sie habe nur das getan, was jede:r tun sollte. Eine Heldentat sei das nicht.
Die junge Frau hat eine klare Haltung: „Die Menschen auf der Straße gehören zu den Schwächsten. Denen sollte man einfach helfen.“ Vor Kurzem sei sie angesprochen worden: „Du bist also die, die dem Penner geholfen hat?“ Da habe sie geantwortet: „Das heißt Obdachloser. Und das kann dir auch von heute auf morgen passieren.“