Der rechtsextreme Mord an Süleyman Taşköprü jährt sich zum 20. Mal. Caro Keller von „NSU-Watch“ und der Überlebende des Anschlags von Mölln, İbrahim Arslan, sprechen über Gedenken und Aufarbeitung von Behördenfehlern.
Hinz&Kunzt: Wir stehen am Hamburger NSU-Tatort, eine Gedenkstätte erinnert an Süleyman Taşköprü, 100 Meter weiter ist eine Straße nach ihm benannt. Wird Hamburg damit dieser Tat gerecht?
İbrahim Arslan: Wir sehen hier zwei Gedenkorte. Das oben ist die städtische Gedenktafel, der Stern darunter ist die Gedenkstätte der Familie. Daran sieht man, wie die Familie sich vom institutionellen Gedenken abspaltet.
Caro Keller: Die Familie hat sich auch nicht gewünscht, dass ein Teil der Parallelstraße nach Süleyman Taşköprü benannt wird. Sie forderte nach der Selbstenttarnung des NSU von der Stadt Aufklärung. Stattdessen hat Hamburg 2014 die Straße umbenannt – fürs Image. Der Forderung nach Aufarbeitung wird das nicht gerecht.
Herr Arslan, Sie haben 1992 in Mölln den Brandanschlag von Neonazis auf das Haus Ihrer Familie überlebt. Auch heute noch würden die Täter:innen nach solchen Anschlägen mehr Aufmerksamkeit als die Opfer bekommen, kritisieren Sie.
Arslan: Wir leben in einer täterorientierten Gesellschaft. Die Perspektive der Betroffenen kommt kaum vor. Die Gesellschaft spricht nicht über die Menschen, die überlebt haben, und wie sie damit umgehen. Dabei wäre das wichtig, um die Angehörigen und die Verstorbenen zu würdigen.
In der Juni-Ausgabe
Der Kaufmann Süleyman Taşköprü ist am 27. Juni 2001 in seinem Laden in der Bahrenfelder Schützenstraße von Terroristen des NSU erschossen worden. In unserer Juni-Ausgabe erinnert Ayşen Taşköprü in einem persönlichen Text an ihren Bruder Süleyman.
Nach dem Mord an Süleyman Taşköprü ist vieles falsch gelaufen: Die Hamburger Polizei hat lange Organisierte Kriminalität als Tatmotiv vermutet, im familiären Umfeld ermittelt und soll sogar versucht haben, die Ermittlungen in Richtung rechts zu verhindern. Haben die Behörden aus ihren Fehlern gelernt, Frau Keller?
Keller: Die Hamburger Behörden sind immer noch nicht in der Lage, rechte Taten als solche zu erkennen. Das haben wir etwa 2017 beim Anschlag am S-Bahnhof Veddel gesehen.
Bei der Explosion einer selbst gebauten Nagelbombe wurde zum Glück niemand verletzt …
Keller: Obwohl bekannt ist, dass der Täter eine rechte Vergangenheit hat und aus diesen Motiven auch schon einen Menschen umgebracht hatte, sprach die Polizei von einer unpolitischen Tat, weil er inzwischen zur Trinkerszene gehöre. Da sehe ich keinen Lerneffekt.
Das Gericht hat später erkannt, dass ein rassistisches Motiv „ziemlich wahrscheinlich“ war.
Keller: Wir haben vor NSU-Untersuchungsausschüssen auch Ermittler aus Hamburg gesehen. Einer hat dort erneut rassistische Gerüchte über die Familie verbreitet. Ein anderer hat ausgesagt, die Polizei habe keine Möglichkeit gehabt, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt als Täter:innen zu erkennen. Wenn man mit der gleichen Kreativität in Richtung rechts ermittelt hätte, mit der man die Familie drangsaliert hat, wäre man irgendwann auf die drei gestoßen. Das wurde einfach nicht gemacht.
Sie haben sich ausführlich mit dem NSU beschäftigt. Ist 20 Jahre nach dem Mord in der Schützenstraße aufgeklärt, ob dabei Hamburger Neonazis eine Rolle gespielt haben?
Keller: Wir gehen davon aus, dass es hier Helfer:innen gegeben haben muss. Wie soll man als Mensch aus Jena auf diesen Ort kommen, wenn einem niemand den Hinweis gibt, dass es hier migrantisch geführte Läden gibt? Wir wissen, dass es Bekanntschaften zwischen Hamburger Neonazis und dem NSU-Kerntrio gegeben hat. Und wir wissen, dass es eine sehr einflussreiche und tonangebende rechte Szene in Hamburg gab und gibt.
Könnte ein Hamburger Untersuchungsausschuss diese Hintergründe aufdecken? SPD und Grüne* lehnen ihn noch immer ab, weil der Innenausschuss der Bürgerschaft sich bereits ausreichend mit dem Fall beschäftigt habe.
Keller: Alle Untersuchungsausschüsse haben neue Puzzleteile geliefert. Bislang konnte in Hamburg niemand die Akten sichten, außer dem Verfassungsschutz selbst – und dem kann man nicht trauen. Es heißt immer, man brauche neue Anhaltspunkte, um einen Ausschuss einzurichten. Dann guckt man sich den Mord an Süleyman Taşköprü an und denkt: „Reicht euch das nicht? Ist das noch nicht schlimm genug?“
Arslan: Die Ermittlungen waren rassistisch. Laut Bürgermeister Peter Tschentscher gibt es trotzdem kein öffentliches Interesse an einem Hamburger Untersuchungsausschuss, weil es keinen Skandal bei den Ermittlungen gegeben habe. Offenbar ist die Stadt auf dem rechten Auge blind. Nach dem Anschlag in Hanau ist durch Recherchen der Familienangehörigen vieles ans Tageslicht gekommen. Das lassen die Hamburger Behörden beim NSU nicht zu, weil sie belastendes Material nicht herausgeben.
2018 endete der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München, ließ aber ebenfalls vieles unbeantwortet. Die Hamburger Nebenklage-Anwältin Gül Pinar sagte in ihrem Plädoyer, die Zivilgesellschaft sei nun gefragt, diese Fragen aufzuklären. Was können wir tun?
Arslan: Nach der Selbstenttarnung des NSU haben wir gehofft, dass die gesamte Gesellschaft aufsteht, ihre Empörung zeigt und auf die Straße geht – mit zwei, drei Millionen Menschen. Aber es war nichts los!
Keller: Wenn es große Demos gegeben hätte, hätte es auch mehr Aufklärung gegeben. In Hamburg haben sich aber mehrere Initiativen für das Gedenken stark gemacht und Hintergründe aufgearbeitet, die man so vorher in der Stadtgesellschaft nicht kannte. So wurde die Geschichte neu geschrieben.
Erinnerung an Süleyman Taşköprü
* In einem Beschluss des Grünen Landesparteitages von Anfang Juni heißt es, man habe die SPD „nicht für dieses wichtige Anliegen gewinnen“ können: „Das sollte uns aber nicht davon abhalten, bei der parlamentarischen Arbeit und Aufklärung weiterhin dafür zu kämpfen“.