Mehr als 60.000 pflegebedürftige Menschen in Hamburg werden von Angehörigen versorgt, meist Frauen. In der Coronapandemie wurde ihre Lage oft unerträglich. Ihr Protest blieb: ungehört.
Zwei Mal pro Nacht steht Bianca Paul auf, um ihre Tochter zu wickeln – seit mehr als 15 Jahren. Morgens stellt sie den Wecker dann auf 5.20 Uhr. Das sind 40 Minuten, bevor Magdalena aufwacht: ihre Zeit. „Wenn sie mich ruft, ist es für mich erst mal vorbei“, sagt die 56-Jährige.
Danach beginnt, was die pflegende Mutter den „täglichen Kampf“ nennt. Mühsam überredet sie ihre Tochter, aufzustehen. Sich anziehen zu lassen. Zu frühstücken, auch wenn mal wieder die falschen Brötchen auf dem Tisch stehen. Magdalena kann sehr wütend werden. Dann tobt und spuckt sie, schreit „halt die Fresse“ oder schlägt sich mit aller Kraft gegen den Kopf.
Magdalena wurde in der 24. Schwangerschaftswoche geboren, keine 500 Gramm schwer, ihr Kopf so klein wie ein Hühnerei. „Sie war noch gar nicht dafür gemacht, auf der Welt zu sein“, sagt Bianca Paul. Die Ärzte hatten sie auf das Schlimmste vorbereitet. Der Vater, der im Ausland lebte, besuchte die Tochter zwei Mal und verschwand schließlich kommentarlos aus ihrem Leben. Die Mutter gab nicht auf: „Ich glaube, nur deswegen hat sie überlebt. Weil sie gespürt hat: Da ist jemand, der mich liebt.“
Heute ist Magdalena ein kontaktfreudiger Teenager. Sie spricht Leute an, merkt sich ihre Namen, zeigt Fotos auf ihrem Tablet. Ihren Rollstuhl kann sie selbst steuern, trotz der halbseitigen Lähmung. Lesen und Schreiben kann sie nicht. In der Schule waren sie gerade beim Stoff für Klasse zwei.
Vor der Pandemie kam der Schulbus jeden Morgen um 7.15 Uhr. Dann konnte Bianca Paul sich an die Arbeit machen: aufräumen, putzen, waschen, spülen, einkaufen. Anträge stellen bei der Pflegekasse, Zusatzleistungen abrechnen, mit Ämtern und Jobcenter streiten. Therapietermine verabreden, zum Arzt gehen. Und, wenn es eben ging, sich eine Stunde Schlaf zurückholen, bevor ab 15 Uhr wieder jede Minute ihrer Tochter gehörte. „Jetzt muss ich das alles irgendwie zwischendurch einschieben“, sagt Bianca Paul. Der Schulbus kommt nicht mehr, Magdalena ist jetzt immer zu Hause. Die Tanzgruppe für Kinder mit Behinderung ist wegen Corona abgesagt, die Chorprobe sowieso. Die ehrenamtliche Helferin, die sonst jedes Wochenende für zwei Stunden kam, war schon ein Jahr lang nicht mehr da. Nicht mal die Physio- und Ergotherapie könne noch wie gewohnt stattfinden, sagt Paul. Magdalenas spastische Verkrampfung habe sich verschlimmert. „Ich bin nun mal keine Therapeutin.“
Am 13. März schiebt Bianca Paul Magdalena im Rollstuhl auf den Hamburger Rathausmarkt. Es ist die erste Unternehmung seit Weihnachten, sie ist wichtig: Die „Pflegerebellen“ haben zur monatlichen Mahnwache aufgerufen. Klein ist die Gruppe immer, vielen fehlt die Zeit, seit Corona kommt die Angst dazu, das Virus zu den Liebsten nach Hause zu tragen. An diesem Mittwoch stellt die Demogruppe einen Rekord auf: 22 Teilnehmende.
„Wer hat ‚Huhu‘?“ ruft Organisator Arnold Schnittger und läuft die Reihe der Demonstrierenden ab. Alle halten ein laminiertes Schild in der Hand, die Wörter bilden einen langen Satz: „Huhu Herr Bürgermeister wir sind nicht unsichtbar aber ignoriert und allein.“ Das ‚Huhu‘-Schild hält Bianca Paul. Ihre Tochter weiß, dass der Bürgermeister Herr Tschentscher heißt und sein Büro im Rathaus hat. Aber ob er da auch für sie arbeitet, ob er überhaupt an die Menschen denkt, die da draußen Posten bezogen haben – das weiß Magdalena Paul nicht. Die meisten hier bezweifeln es.
„Pflegende Angehörige sind der größte Pflegedienst in Deutschland.“– Demonstrantin
Etwa 77.000 pflegebedürftige Menschen leben in Hamburg. Fast 80 Prozent von ihnen – rund 60.000 – werden zu Hause gepflegt. In gut einem Drittel dieser Fälle unterstützen ambulante Dienste die Angehörigen bei der Pflege. Im bundesweiten Vergleich ist der Anteil der Hamburger*innen, die ausschließlich von Familienmitgliedern versorgt werden, mit fast 45 Prozent noch gering. Doch jeder der rund 34.000 Fälle prägt das Leben der Töchter, Partnerinnen oder Mütter, die meist als Erste und oft Einzige die Pflege schultern. Pflegende Partner, Söhne oder Väter sind die Ausnahme.
Rund um die Uhr helfen, Essen reichen, wickeln und trösten – mit dieser Aufgabe endet für viele auch das Berufsleben. So rutschen pflegende Angehörige in Hartz IV. Das Pflegegeld, das die Versicherungen zahlen, reicht oft gerade für die nötigen Dienstleistungen, den Rollstuhl oder die Orthesen. Seitdem Kosten für FFP2-Masken und Desinfektionsmittel dazugekommen sind, wird das Hilfsgeld knapp. Denn anders als professionelle Pflegekräfte müssen sich pflegende Angehörige den Infektionsschutz selbst beschaffen. Viele fühlen sich in der Pandemie allein gelassen. Obwohl sie systemrelevant sind. „Pflegende Angehörige sind der größte Pflegedienst in Deutschland“, sagt eine Demonstrantin.
„Von jetzt auf sofort aus dem Leben gerissen“ – so erging es Anja Gerlachs Mann Tomas vor acht Jahren. Mitten im Dienst, mit 52 Jahren, erlitt der Intensivpfleger einen Schlaganfall. Die Kollegen im Krankenhaus retteten ihn, doch in der folgenden Nacht traf es ihn erneut. Das Mobilitätszentrum im Gehirn setzte aus. „Mein Mann konnte nur noch die Augen auf und zu machen“, sagt Anja Gerlach. Die Ärzte diagnostizierten ein Koma, gaben die Hoffnung fast auf. Doch seine Frau spürte, dass sie falsch lagen. „Ich habe beobachtet, dass seine Vitalzeichen auf mich reagieren“, sagt die 54-Jährige mit den Worten der Krankenschwester und studierten Pflegewissenschaftlerin, die sie ist. Sie könnte auch sagen: Ihre Nähe ließ sein Herz schneller schlagen.
Locked-in-Syndrom: So heißt es, wenn ein Mensch bei vollem Bewusstsein in einem gelähmten Körper gefangen ist und weder atmen noch sprechen kann. Ein Jahr lang blieb Tomas Gerlach auf der Intensivstation. Seine Frau versorgte ihn mit, neben ihrem Vollzeitjob, jeden Morgen, jeden Abend. „Fragen Sie mich nicht, wie ich das geschafft habe.“ Als er die Station verlassen durfte, ließ sie sich vom Beruf befreien und pflegte ihn zweieinhalb Jahre lang zu Hause weiter. „Dann haben wir nach und nach angefangen, Hilfen in unser Leben zu holen“, sagt Anja Gerlach. Heute teilt das Ehepaar seinen Alltag mit einem Team aus Assistenten, „unsere Mitarbeiter“ nennt Gerlach sie. Es sind ungelernte Helfer, die ihren Mann im Tagesablauf unterstützen, auch bei der Körperpflege. Angeleitet werden sie von Tomas Gerlach selbst. Er kann inzwischen sprechen und ist sogar wieder berufstätig: Im Homeoffice koordiniert er die Fortbildungen seiner Kollegen im UKE.
Auch Anja Gerlach arbeitet wieder in ihrem Beruf. Doch seit Corona kommt das häusliche Pflegesystem an seine Grenzen. „Wir haben kaum Personal bekommen“, sagt sie. Mitten in der Pandemie waren plötzlich nur noch drei der sieben Assistentenstellen besetzt. Gerlach übernahm die Dienste zusätzlich zu ihrem Job und hoffte auf neue Bewerber, lange vergeblich. „Viele hatten einfach Angst vor dieser körpernahen Tätigkeit“, sagt sie. Andere hätten gar kein Bild davon gehabt, was häusliche Pflege bedeutete. „Die kamen aus der Gastronomie oder aus dem Eventmanagement.“
„Wir, die pflegenden Angehörigen, sind einfach vergessen worden!“– Anja Gerlach
Am schwierigsten aber war, Schutzausrüstung zu bekommen, sagt Gerlach. Bis Oktober habe sie auf FFP2-Masken gewartet. „Wir, die pflegenden Angehörigen, sind einfach vergessen worden!“ Die mögliche Folge, also dass Tomas Gerlach sich mit Corona ansteckt, habe sie versucht zu verdrängen. Ihr Mann habe schon mehrere Lungenentzündungen überlebt, aber Covid sei eben schlimmer, gerade für Vorerkrankte. Anja Gerlach hat die Patient*innen gesehen, die auf der Intensivstation um ihr Leben kämpfen. Ihr Mann hätte einer davon sein können. „Das ist eine Angst, die ich mit in meine Nächte nahm.“
Denn inzwischen sind sie und ihr Mann geimpft. Tomas Gerlach, heute 60, wird zwar nicht der Impfgruppe 1 zugerechnet, doch das UKE konnte auch das Krankenhauspersonal im Homeoffice impfen lassen. Nun hofft das Paar, dass auch die häuslichen Assistenten bald zum Zuge kommen. Termine gibt es noch nicht, aber das Hilfssystem im Hause Gerlach ist fragil. Ohne die „Mitarbeiter“ könnte das Paar sein Leben kaum meistern.
Doris Emde, Honorardozentin für Pflege und ehemalige Pflegedienst-Mitarbeiterin, ist einerseits vom Fach, andererseits auch Betroffene: Im Wechsel mit ihren Geschwistern und ihrem Ex-Partner pflegt die 55-jährige Hamburgerin ihren schwer dementen Vater in dessen Haus in Hessen. Jeden zweiten Monat lebt sie mindestens zwei Wochen lang mit ihm unter einem Dach. „Man kann ihn nicht mehr alleine lassen“, sagt die Tochter. Der Vater sieht es anders.
„Das geht dich nichts an“, knurrt der 85-Jährige, wenn sie ihm nahelegt, sich zu waschen oder die Kleidung zu wechseln. Dass sie für ihn kocht, einkauft, seine Finanzen regelt, hält er für übergriffig. Es gebe auch gute Momente, sagt Emde. Dann sei ihr Vater dankbar, wolle seine Kinder entlohnen für ihre Hilfe. „An sehr guten Tagen umarmt er uns sogar. Doch oft sind wir für ihn ein einziger Störfaktor.“ Der Vater kenne ihr Gesicht, doch dass sie seine Tochter ist, wisse er nicht mehr. Daher muss sie ihn ständig um Erlaubnis bitten. „Dann frage ich: ,Kann ich mir ein Brot schmieren? Kann ich auf die Toilette gehen?‘“ Er ist der Herr im Haus. Sein letzter Rest Sicherheit hängt davon ab.
„Mein Vater war noch nie ein einfacher Mensch“, sagt Emde. Er sei ein guter Grundschullehrer gewesen, stolz auf seinen Werdegang als Akademiker aus ärmlichen Verhältnissen. Er leitete den Brieftauben-Zuchtverein im Ort, den Frauenchor, engagierte sich in der SPD. Doch als Vater sei er ein Despot gewesen, sagt die Tochter. „Er war gewalttätig, wir hatten wirklich Angst vor ihm.“
Vorsorge und Hilfe
• Vorsorge- oder Generalvollmacht: Wer soll was für mich regeln, wenn ich es selbst nicht mehr kann?
• Betreuungsverfügung: eine Form der rechtlichen Vorsorge, für die ein Gerichtsbeschluss nötig ist
• Hamburgs Pflegestützpunkte beraten zu Antragsmöglichkeiten bei Sozialversicherungen.
• Barrierefrei Leben e. V. gibt Rat für technische Hilfen und Umbaumaßnahmen.
• Die Hamburger Angehörigenschule bietet kostenfreie Kurse und Gesprächsrunden.
• Die Allianz pflegender Angehöriger vernetzt Betroffene und vertritt ihre Interessen.
30 Jahre lebte der Vater allein, doch vor drei Jahren verlor er zusehends die Kontrolle, erzählt Doris Emde. Die Ursache war für seine Kinder offensichtlich, für ihn nicht. „Ich habe immer gehofft, dass er irgendwann nicht mehr weiß, wo das Auto steht, damit er am Steuer niemanden gefährdet.“ Zum Glück sei das auch so eingetreten. Vor einem halben Jahr übernahm Emde die rechtliche Vertretung. Als Schutz für ihn, der nie von Fremden abhängig sein wollte. Während sie mit den Behörden die Vollmachten klärte, trank ihr Vater zu Hause Chemietoilettenreiniger. Ein Versehen? Daran glaube niemand so recht, sagt die Tochter.
Die Geschwister engagierten eine professionelle 24-Stunden-Pflegekraft. „Die Dame kam aus der Ukraine, konnte wenig Deutsch und war völlig überfordert mit der Situation“, sagt Emde. Für den Vater sei die Frau eine Fremde gewesen, die sich an seinem Eigentum vergriff und der er nicht trauen konnte. Er drohte ihr, sie fürchtete sich vor ihm. Irgendwann war klar: Externe Pflege ist keine Option. Aber auch die Familie fühlt sich überfordert. Sie könne ihre Brüder und Schwester verstehen, sagt Emde. Die Verantwortung sei zu groß, seine Schläge traumatisierend. „Es macht etwas mit mir, wenn er die Hand hebt oder einen Stock nimmt.“
Eine Wahl zwischen Pest und Cholera: So nennt Emde die Entscheidung, die sie nun treffen muss. Sie werde den Vater in ein Pflegeheim geben, gegen seinen Willen. Und gegen ihr Versprechen. „Ich setze alles daran, dass es nicht passiert“ – das sagte sie, als sie die Betreuung für ihren Vater übernahm. Jetzt sagt sie: „Ich komme mir vor wie eine Verräterin.“
Dass er sich im Heim mit Corona anstecken könnte, ist nicht Emdes Sorge. „Mein Vater würde sterben wollen“, sagt sie. Schlimmer als der Tod seien für ihn wohl die zwei Wochen Quarantäne, die ihm im Heim bevorstehen, isoliert in einer fremden Umgebung. Er würde seinen letzten Halt verlieren. Das ist es, was Doris Emde schmerzt: Ihren Vater allein zu lassen mit seiner Angst.
Der Ernstfall kommt bedrohlich nahe
Hinter jeder Tür ein persönliches Schicksal. Keine Familie gleicht der anderen, jede findet ihre eigenen Strategien, den Alltag zu meistern. Doch ein Lebensgefühl eint alle pflegenden Angehörigen: Im Ernstfall kommt es auf sie an. Sie sind diejenigen, die ihr eigenes Leben hintanstellen, wenn alle Hilfen wegbrechen. In der Pandemie kommt dieser Ernstfall vielen bedrohlich nahe.
„Wir haben uns mal gesagt: ‚In guten und in schlechten Tagen.‘ Das ist es, was mich trägt.“ Die Krankenschwester Anja Gerlach weiß jetzt, wie diese schlechten Tage sich anfühlen. Trotzdem ist sie froh, so viel für ihren Mann da sein zu können. Auch Bianca Paul kann sich nicht vorstellen, ihre Tochter jemals in ein Pflegeheim zu geben – egal, wie sehr das Jobcenter sie drängt, dass sie wieder arbeiten geht. „Ich liebe mein Kind über alles“, sagt sie. Für Magdalena da zu sein, sei ihre Aufgabe.
Und wenn sie diese Pflicht eines Tages nicht mehr erfüllen könnte? „Ich glaube, das wäre das Schlimmste“, antwortet die Mutter. „Ich würde denken, ich habe versagt.“