Bei den Hamburger Koalitionsverhandlungen rückt die Sozialpolitik in den Fokus. Was die Koalitionäre für Obdach- und Wohnungslose tun sollten, beantworten sieben Expert*innen.
Zu den Forderungen, die wir schon für das Februar-Magazin anlässlich der Wahl gesammelt hatten, zählen der verstärkte Bau von Sozialwohnungen, eine bessere medizinische Versorgung und die Halbierung der Obdachlosigkeit innerhalb von fünf Jahren. Die Forderungen nach einem Housing-First-Modellprojekt und einer Pension für Arbeitssuchende aus dem EU-Ausland wiederum erfüllte die Koalition kurz vor der Bürgerschaftswahl. Der Beschluss der Regierungsparteien sah sogar vor, dass für Wohnungsnotfälle mehr Wohnungen bereitstehen sollen.
„Wir erwarten, dass die Beschlüsse weiterhin oberste Priorität genießen – trotz Corona“, sagt Karrenbauer. Zwar hätten sich die Vorzeichen durch die Corona-Pandemie grundlegend geändert. „Aber gerade deswegen ist eine Einzelunterbringung für Obdachlose so wichtig“, sagt Karrenbauer. Hinz&Kunzt, die Alimaus und die Diakonie haben zusammen mit Hamburger Straßensozialarbeiter*innen in den vergangenen Wochen rund 150 Obdachlose in Hotelzimmern untergebracht. Finanziert wird das Projekt von Reemtsma Cigarrentenfabriken. „Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass eine eigene Unterkunft den Menschen hilft, um Ruhe zu finden und Kräfte zu sammeln“, sagt Karrenbauer. „Das sagen nicht wir Sozialarbeiter, sondern die Obdachlosen selber. Immer wieder erzählten sie uns, wie gut es ihnen in den eigenen vier Wänden geht und das sie lange auf solch eine Hilfe gewartet haben.“
Das fordern die Expert*innen:
„Das Hamburger Hilfesystem braucht einen Richtungswechsel hin zu Housing First!
Bei diesem sehr überzeugenden Konzept bekommen wohnungslose Menschen so schnell wie möglich und ohne Vorbedingungen einen Mietvertrag für eine eigene Wohnung. Einmal eingezogen, können sie Hilfe von Sozialarbeitern bei der Bewältigung ihrer Probleme bekommen, wenn sie das möchten. Dadurch bekommen sie die nötige Sicherheit, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Das Faszinierende an diesem Ansatz ist: Auch Menschen mit großen Problemen wie psychischen oder Suchterkrankungen kann man zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen – selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden. Für die überwältigende Mehrheit wohnungsloser Menschen wäre das der richtige Ansatz – das belegen Studien aus den USA und Europa. Und für die Stadt wäre es viel günstiger, die Menschen auf diese Weise unterzubringen. Ein Modellprojekt insbesondere für obdachlose Menschen, wie die Bürgerschaft gerade beschlossen hat, wäre ein Anfang und würde zeigen: Was weltweit funktioniert, funktioniert auch in Hamburg.“
Stephan Nagel, Referent für Wohnungslosenhilfe bei der Diakonie
„Das Winternotprogramm muss auch tagsüber geöffnet haben! Ich habe es schon bei Herrn Scholz mit einer Online-Petition probiert, doch dann hat er die Biege gemacht und es nicht genehmigt. Also fordere ich jetzt die neue Regierung auf: Denken Sie an die Obdachlosen! Geben Sie ihnen eine Chance, sich auch tagsüber zu erholen, und lassen Sie das Winternotprogramm ganztägig offen! Dann würden auch viele, die die Notunterkünfte bislang meiden, das Angebot annehmen und könnten dort ihre Zukunft planen.“
Jörg, Hinz&Künztler, war selbst lange obdachlos.
„Es ist nicht normal, jahrelang Doppelzimmer, Bad und Küche mit Menschen zu teilen, die man sich nicht ausgesucht hat. Das Leben in den Einrichtungen führt dazu, dass die Bewohner*innen immer unselbstständiger werden und nicht zur Ruhe kommen können. Vor allem Frauen wünschen sich besonders geschützte Rückzugsräume. Auch die Bedürfnisse von Transpersonen müssen berücksichtigt werden. Wir brauchen eine Vielfalt an Unterkünften: Kirchenkaten mit Anbindungen an die Gemeinden oder kleinere Containerprojekte.“
Andrea Hniopek, Leiterin des Fachbereichs Existenzsicherung bei der Caritas
„Ich war selbst acht Jahre wohnungslos. Wenn man auf der Straße lebt, hat man einfach nicht die Kraft dazu, auf dem normalen Wohnungsmarkt etwas zu finden. Ich habe erst eine eigene Wohnung bekommen, als Wohnungen für chronisch psychisch Kranke gebaut wurden. Bitte bauen Sie mehr Wohnungen für Obdachlose oder chronisch Kranke. Dann wählen wir Sie auch!“
Jasmin, Hinz&Künztlerin
„Das Leben auf der Straße macht die Menschen krank. Wir brauchen ein funktionierendes medizinisches Versorgungsnetz, um ihr Menschenrecht auf Gesundheit zu schützen! Das muss für alle obdachlosen Menschen unabhängig von Herkunft, Status oder Versicherungsschutz gelten. Es gibt gute Angebote in Hamburg, aber sie sind oft überlaufen und müssen gestärkt werden – durch eine bessere Finanzierung und mehr Personal. Wenn wir in der Krankenstube mehr Mitarbeiter*innen hätten, müssten wir weniger Kranke ablehnen, weil ihr Pflegebedarf zu hoch ist. Und es müssen bestehende Versorgungslücken geschlossen werden. Wir brauchen zum Beispiel spezielle Angebote für psychisch kranke Obdachlose oder Diabetiker*innen, die sich ohne Krankenversicherung nur schwer mit dem teuren Insulin versorgen können. Die Angebote müssen so aufgestellt sein, dass die Kranken sie auch annehmen können: Termine vereinbaren, nüchtern erscheinen und einen Dolmetscher mitbringen schaffen viele nicht.“
Thorsten Eikmeier, Leiter der Krankenstube für Obdachlose
„Hamburg profitiert von der Zuwanderung aus anderen Ländern, viele EU-Bürger*innen zahlen hier ihre Steuern. Also müssen wir auch die unterstützen, die bisher auf der Strecke geblieben und hier auf der Straße gelandet sind. Fast alle kommen auf der Suche nach Arbeit zu uns – und dabei brauchen sie Unterstützung. Ein Ankunftshaus wäre das Richtige: Dort könnten sie in den ersten Monaten leben, sich beraten lassen und Weiterbildungen wie Sprachkurse besuchen. Arbeitgeber*innen könnten dort nach Mitarbeiter*innen suchen, Löhne würden garantiert gezahlt. Das gab es übrigens schon: Vor rund 100 Jahren wurden für Wandergesellen Kolpinghäuser gebaut – mit einer ähnlichen Idee. Gut, dass Rot-Grün unseren Vorschlag jetzt aufgegriffen hat und eine Pension für EU-Arbeitsmigrant*innen plant.“
Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt
„Hamburg macht eine Menge gegen Obdachlosigkeit – aber die Zahlen von Obdach- und Wohnungslosen steigen weiter. Da muss man sich doch die Frage stellen, was man besser machen müsste! Es fehlt bislang am eindeutigen politischen Willen, Obdach- und Wohnungslosigkeit wirklich mit koordinierten Maßnahmen nachhaltig zu bekämpfen. Der neue Senat sollte sich die Zielmarke setzen, die Zahlen innerhalb von fünf Jahren zu halbieren! Damit würde er sich auch selbst unter Druck setzen. Es würde zu verbindlicherem, effektiverem und strukturierterem Handeln führen nach dem Motto: „Wir haben dieses Ziel – und tun jetzt alles dafür, es auch zu erreichen.“ Es stehen viele Ideen im Raum, und es wird Zeit, dass wir sie nicht nur
diskutieren, sondern auch umsetzen. Also: Jetzt mal Butter bei die Fische!“
Sandra Berkling, stellvertretende Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburg