Im Dezember ist Harry Schulz im Alter von 59 Jahren verstorben. Viele kannten ihn aus dem Frühstücksfernsehen von Sat.1. Seit Jahren war er für den Sender als Gastronomietester auf der ganzen Welt unterwegs. Für das Hinz&Kunzt-Sonderheft „Lecker auf die Hand“, hat ihn Annette Woywode 2016 portraitiert.
Eines Tages betrat eine Stammkundin den „Lütt’n Grill“. Seltsame Gelüste trieben die hochschwangere Frau in die Max-Brauer-Allee. „Ich brauche dringend ein halbes Hähnchen“, gab die Vegetarierin ihre Bestellung auf. Genüsslich aß sie einen frisch gegrillten Vogel – und brachte noch in derselben Nacht ein gesundes Kind zur Welt.
Harry Schulz, Besitzer des Ladens und heute als Gastronomietester für den Privatsender Sat.1 unterwegs, schmunzelt noch immer über die Begebenheit. Und ja, für seine Grillhähnchen lohnt es sich, strenge Essgewohnheiten zu überdenken: Ihre Haut ist würzig und knusprig, das Fleisch saftig und zart. Ihr Geheimnis: frische, nie tiefgefrorene Hähnchen aus der Region, eingelegt in eine Kräuter-Spezialmarinade.
Als Harry Schulz den „Lütt’n Grill“ vor 22 Jahren aufmachte, bekam seine damalige Freundin die Rezeptur für die Marinade von einem Verehrer geschenkt: dem Chef eines großen Gastronomiebetriebes. Glück für Harry, denn der hatte damals null Ahnung von dem Metier – was den heute 56-Jährigen nicht davon abhielt, sich nach erfolgreichen Jahren in der Werbe- und Musikbranche beruflich ausgerechnet in diesem Bereich auszuprobieren. Er fand einfach, dass das Essen in den meisten Imbissen unbefriedigend war und wollte es besser machen. Also ging er in jeden noch so unscheinbaren Laden, probierte die Angebote, schrieb Preise ab und beobachtete. Was läuft gut, was nicht? Warum? Dann testete er Frittierfette und entwickelte die Rezepte für seine Frikadellen, Currywürste, den Kartoffel- oder Gurkensalat.
Ein Jahr lang ging das so. Doch trotz aller Vorbereitung: Der Tag der Eröffnung war ein Debakel. Denn der Mann, der den Imbissneulingen die Hähnchenmarinade geschenkt hatte, sah seine Felle bei Harrys Freundin davonschwimmen – und war stinksauer auf den Rivalen. „Die Hähnchen hat er uns noch auf die Grillhaken gesteckt, dann ist er gegangen“, erzählt Harry und lacht. „Der Ofen war 250 Grad heiß, er weg. Aber wie kriegen wir die Hähnchen wieder von der Stange? Keine Ahnung. Ich bin dann erst mal abgehauen und hab mich 20 Minuten in einen Imbiss gesetzt. Wie machen die das? Aha. Mit einer stinknormalen Wasserrohrzange und einem Pieker. Ich also zu 1000 Töpfe am Schulterblatt und schnell ’ne Wasserrohrzange gekauft. Aber als ich wieder in meinem Laden war, waren die Hähnchen schon alle von der Stange gefallen.“
Solche Missgeschicke sind schon lange Schnee von gestern. Der Laden läuft. Und obwohl Harry inzwischen schon seit zehn Jahren für Sat.1 um die halbe Welt reist und Imbisse, Kantinen, Restaurants oder kulinarische Absurditäten auf der ganzen Welt testet, würde er nie auf die Idee kommen, den „Lütt’n Grill“ aufzugeben. Immerhin eine Stunde täglich verbringt er noch in seinem „Laden der Weltreligionen“, wie er ihn liebevoll nennt, weil dort zwei Juden, ein Moslem, ein Katholik und ein Protestant friedlich zusammenarbeiten. „Der Laden ist mein Baby“, sagt Harry – obwohl er durch ihn einige Freunde verlor. „Erst warst du der Chef einer florierenden Agentur, mit dem man sich schmücken konnte, plötzlich der Pommes-Dealer“, erinnert er sich.
Dass die falschen Freunde von damals mit dem TV-Promi inzwischen wieder angeben könnten, interessiert Harry Schulz nicht die Bohne. Wie er überhaupt total auf dem Teppich geblieben zu sein scheint. Er sitzt auf einer Bierbank vor seinem Imbiss und egal, wer vorbei kommt: Harry schnackt mit allen. „Ich konnte schon immer gut sabbeln“, sagt er und weiß, dass ihn diese Gabe, sein Organisationstalent, harte Arbeit und viel Glück durchs Leben getragen haben. Denn dass er heute so weit oben schwimmt, ist nicht selbstverständlich.
Geboren wurde Harry auf dem Kiez. Der Vater, schwer gezeichnet durch die russische Kriegsgefangenschaft, war alkoholkrank und lebte zeitweise sogar auf der Straße. Als Harry elf war, starb die Mama. Harry sollte ins Heim. Doch die beiden fünf und sieben Jahre älteren Brüder beknieten den Vater, bis dieser sich tatsächlich zusammenriss, sich Job und Wohnung besorgte und die Fürsorge überzeugte, ihm den Jungen zu überlassen.
Das Glück währte allerdings nur kurz: „Nie war was zu essen da, er hat wieder viel getrunken und immer rumgebrüllt – ich wollte lieber ins Heim, als bei ihm zu bleiben.“ Das aber kam für die Brüder nicht infrage. Sie quartierten das Nesthäkchen in der Wohnung der verstorbenen Mutter ein.
„Ich hab wirklich gewusst, was Hunger ist. Richtiger, echter Hunger.“– Harry Schulz
Fortan lebte der Elfjährige dort quasi allein. „Meine Brüder sagten zu mir: ,Solange du in der Schule Leistung bringst, kommt die Fürsorge nicht‘“, erinnert sich Harry. „Ich hab’ mir also Mühe gegeben.“ Die Brüder kamen für die Miete auf, den Rest sollte der Vater beisteuern. Doch genau da lag das Problem: „Ich bekam nie Kohle. Ich hab wirklich gewusst, was Hunger ist. Richtiger, echter Hunger“, erzählt Harry ohne einen Hauch von Verbitterung gegenüber seinem Vater. „Ich hatte die Wahl: Entweder ich gehe klauen oder arbeiten. Klugerweise habe ich mich fürs Arbeiten entschieden.“
Schnell wurde klar: In Harry schlummerte der geborene Geschäftemacher. Und: „Die Leute fanden das quietschig, dass ich so ’ne große Klappe hatte“, erinnert er sich. Sie ließen ihn gegen Geld, Kakao und Kuchen Tapeten sortieren oder den Hinterhof eines Edelpuffs fegen. Schule, Hausaufgaben, Arbeit: So sahen die Tage des Jungen aus, der sich für alles die Erlaubnis der Brüder einholte und – wie Pippi Langstrumpf – täglich seiner Mama im Himmel Bericht erstattete. Aber: „Dass ich mit meinen Jobs keine großen Sprünge machen konnte, habe ich schnell kapiert.“
Da hatte der Lütte eine „geile Geschäftsidee“: Wenn die Prostituierten tagsüber anschaffen gehen, haben sie keine Zeit, für sich einzukaufen. Und wenn sie abends nach Hause kommen, haben die Läden zu. „Ich bin eure Lösung!“, warb Harry für sich. 13 Prostituierte nahmen am Ende seine Einkaufsdienste in Anspruch. Und weil sie begeistert von dem „pfiffigen Kerlchen“ waren, steckten sie ihm eine Menge Trinkgeld zu. Harry war ein gemachtes Kind.
Wären Harrys Hormone nicht gewesen, seine Brüder hätten den inzwischen 15-Jährigen weiter seinen Job machen lassen. Doch sie merkten, dass sich der Junge mehr als ihm guttat für die Frauen und das verruchte Leben auf dem Kiez zu interessieren begann. Weil einer der Brüder gerade seinen Job als Discjockey im Blow Up in der Großen Freiheit aufgeben wollte, gab er den Posten an Harry weiter.
So begann eine kleine Karriere als DJ, die abrupt mit dem 18. Geburtstag des jungen Mannes endete. Denn noch immer besuchten ihn viele Zuhälter, deren Mädchen Harry einst belieferte, in der Disco. Den alten Kumpel beglückten sie mit einem besonderen Geschenk: einer Prostituierten. Für Harry war das eine Katastrophe. „Ich hatte ganz andere Lebenspläne! Ich wollte nie Zuhälter werden. Mich hat es schon immer in die Werbung gezogen“, erinnert sich der heutige Imbissbetreiber und TV-Gastronomietester. Aber ein solches Geschenk abzulehnen, war quasi unmöglich. Die Gesetze, die auf dem Kiez herrschten, sahen das nicht vor. So holte sich Harry bei Kiezgröße Heinz Dohmes Rat, der ihm den Tipp gab: „Entweder du nimmst das Geschenk an. Oder du verschwindest für immer von St. Pauli.“
Harry entschied sich für „oder“. Bei der Bundeswehr brachte er erst mal Abstand zwischen sich und den Kiez. Anschließend zog er auf den Großneumarkt und begann eine Ausbildung zum Werbekaufmann. Als er Jahre später seine eigene Agentur verkaufte, um seinen Imbiss aufzumachen, war er beinahe Millionär.
Trotzdem guckt Harry Schulz betreten, wenn er an die Anfangszeit im „Lütt’n Grill“ zurückdenkt: „Das lief überhaupt nicht.“ Einen Pleiteladen hatte er angemietet, in dem 16-mal in sechs Jahren der Mieter gewechselt hatte. „Da haben Leute den Kopf durch den Türspalt gesteckt und gefragt: ,Na, wie lange wollt ihr das noch machen?‘ – und klack, war die Tür wieder zu.“ Von außen. Aber waren die Kunden erst mal im Laden, überzeugte er sie mit seiner Mischung aus „Freundlichkeit, Qualität und Sauberkeit“.
Vielleicht noch wichtiger war aber etwas anderes: „Wenn ich hinterm Tresen stehe, schlüpfe ich in ein Kostüm“, erzählt Harry. „Der Laden ist wie eine Bühne für mich, auf der ich mich ausleben kann – und das hat den Leuten gefallen.“ Irgendwann aßen schließlich Promis wie Lotto King Karl, Samy Deluxe oder Ulrich Tukur im „Lütt’n Grill“. Und eines Tages machten Gäste Film-
aufnahmen von dem schlagfertigen Wirt. Der wusste gar nicht, dass seine Kunden vom Fernsehen waren – bis ein Brief von Sat.1 in seinem Postkasten lag.
„Ich zum Fernsehen? Nee danke“, war Harrys erste Reaktion auf den Vorschlag, ihn in vier Folgen als Imbisstester auszuprobieren. „Aber dann dachte ich: Mein Laden bundesweit im Fernsehen? Eine bessere Werbung kriege ich nicht! Ich hab also gefragt: ,Was muss ich machen?‘ Die sagten: ,Du musst einfach nur Harry sein.‘ Okay, dachte ich mir, das kann ich.“
„Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an meine Mutter denke.“– Harry Schulz
Die ersten Folgen – Harry Schulz erinnert sich daran mit Grausen: „Es war ein Albtraum! Vor jedem Dreh hatte ich Durchfall. Und ehrlich gesagt, ich habe mich geschämt, was ich da mache. Ich fand mich grottenschlecht.“ Aber beim Publikum wurden die Folgen ein voller Erfolg, den Harry inzwischen genießt. Dann wird er ernst: „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an meine Mutter denke. Und wenn ich sie wiedersehe, will ich, dass sie zu mir sagt: ,Ich bin stolz auf dich!‘.“
Richtig ernst zu sein, gelingt Harry Schulz aber nicht lange. „Wir leben hier in einem Paradies!“, freut er sich und schwärmt von der Möglichkeit, Menschen mit gutem Essen glücklich zu machen. Dann holt er vorsichtig ein halbes Hähnchen aus dem Grill und klappert vergnügt mit der Rohrzange. Es ist noch dieselbe wie bei der Eröffnung des „Lütt’n Grill“ vor 22 Jahren.