Obdach- und Wohnungslose in Hamburg sterben im Schnitt 30 Jahre früher als „normale“ Bürger: mit 49 Jahren. Ein Skandal, den eine Studie nun erneut dokumentiert.
Ein Wohnungsloser in Hamburg wird im Durchschnitt nur 49 Jahre alt. „Das ist bedrückend“, sagt Nina Asseln, die diese Zahl für ihre Doktorarbeit errechnet hat. Denn „Normalbürger“ leben Statistiken zufolge rund 30 Jahre länger.
Zwar ist die Lebenserwartung Obdach- und Wohnungsloser im Vergleich zu 2001 um viereinhalb Jahre gestiegen. Doch hat sich die Kluft zur „Normalbevölkerung“, die ebenfalls älter wird, nicht verringert: „30 Jahre sind eine enorme Differenz“, sagt Nina Asseln. „Da muss mehr gemacht werden.“
Wie dramatisch die Zahl 49 ist, zeigt ein Vergleich mit Daten des Statistischen Bundesamts: Selbst in sehr armen Ländern wie Burkina Faso oder Angola werden die Menschen im Schnitt zehn Jahre älter. Grundlage von Nina Asselns Arbeit sind Daten von 263 Obdach- und Wohnungslosen, deren Leichname zwischen 2007 und 2015 im Institut für Rechtsmedizin untersucht wurden. 162 wurden obduziert, weil der Grund des Versterbens unklar erschien oder ein gewaltsamer Tod nicht auszuschließen war.
Obdachlose öfter Gewaltopfer
Erschreckendes Ergebnis: Mindestens acht Wohnungslose starben aus rechtsmedizinischer Sicht durch Gewalteinwirkung. „Nach meiner Einschätzung der Sektionsprotokolle lag in diesen Fällen Fremdverschulden vor“, sagt die Forscherin. „Beweisen kann ich das allerdings nicht, weil ich die Akten der Staatsanwaltschaft nicht einsehen konnte.“ Klar sei, dass Gewalt eine deutlich größere Rolle spiele als bei „Normalbürgern“.
Etwa jeder 2000. Einwohner starb 2015 an den Folgen eines tätlichen Angriffs, so das Statistische Bundesamt. Wer keine eigenen vier Wände hat, wird dagegen 50-mal wahrscheinlicher von anderen Menschen ums Leben gebracht.
„Viele Obdachlose hätten nicht so früh sterben müssen.“– Nina Asseln
Vergiftungen, so die Doktorarbeit, sind weiterhin die Todesursache Nummer eins – jeder vierte Sezierte starb an ihren Folgen. Allerdings hat es im Vergleich zu früheren Studien eine Verschiebung gegeben: Alkoholvergiftungen sind deutlich häufiger geworden, „harte“ Drogen dagegen haben an Bedeutung verloren. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen spielen eine große Rolle – Krankheiten, die in der Regel nicht zum Tod führen, wenn sie rechtzeitig und richtig behandelt werden.
Unterkühlung dagegen wurde nur bei drei Obduktionen als Todesursache festgestellt. Das (kalte) Leben auf der Straße dürfte weitere Todesfälle jedoch mindestens begünstigt haben: So starben fast ein Drittel der untersuchten Obdach- und Wohnungslosen zwischen Dezember und Februar, also in den kältesten Monaten des Jahres.
Hier finden Wohnungslose ärztliche Hilfe
Erstmals geht eine Studie der Frage nach, an welchen Orten Wohnungslose ums Leben kommen. Demnach starb annähernd jeder zweite in einer Notunterkunft oder im Wohnheim. Und immerhin jeder Fünfte, so Nina Asseln, im öffentlichen Raum, „etwa in einem Hauseingang oder einer Toilette“.
Viele verelenden
Wer auf der Straße oder in einer Unterkunft lebt, hat wenig Möglichkeiten, sich hinreichend zu pflegen: Gut drei Viertel der Gestorbenen befanden sich „in einem mäßigen bis schlechten körperlichen Zustand“. Rund 15 Prozent waren sogar verelendet, also etwa von Parasiten befallen. Vergleichsdaten aus älteren Studien fehlen leider auch hier.
Bemerkenswert: Die Herkunft Wohnungsloser hat sich stark verändert. Gut 40 Prozent der Toten stammten aus anderen Ländern, jeder zweite Nichtdeutsche aus Polen. Vor 15 Jahren lag der Migrantenanteil noch bei rund zehn Prozent. „Hier spiegeln sich die Osterweiterung der Europäischen Union und die damit verbundene Öffnung der Grenzen sicherlich wider.“
Nina Asseln arbeitet als Zahnärztin. Sie habe ein Forschungsprojekt „mit Sinn“ gesucht, erklärt sie die Wahl des fachfremden Themas. Was ihr wichtig ist: „Viele hätten nicht so früh sterben müssen – auch wenn Wohnungslose oft schon in jüngeren Jahren schwerer krank sind als andere.“
Ihre Schlussfolgerungen: Die medizinische Versorgung muss besser werden, und: „Eine reiche Stadt wie Hamburg sollte sich stärker für ausreichend bezahlbaren Wohnraum einsetzen.“