1910 Obdachlose haben Forscher in Hamburg gezählt – wahrscheinlich sind es sogar noch Hunderte mehr. Viele stammen aus dem Ausland. Das zu betonen verschleiere die Ursachen, kritisieren Experten.
Nun ist die Zahl in der Welt: 1910 Obdachlose gibt es in Hamburg, erfuhr die Öffentlichkeit in dieser Woche durch eine Senatsantwort auf eine kleine Anfrage der CDU-Politikerin Franziska Rath. Ein krasser Anstieg um 86 Prozent gegenüber 2009. Es ist das vorweggenommene Ergebnis einer Studie, die die Bielefelder Gesellschaft für Organisation und Entscheidung im Auftrag der Stadt durchgeführt hat.
Die Zahl ist eine Mindestzahl: Bei der Befragung im vergangenen März hatten Wissenschaftler eine Woche lang Fragebögen an Obdachlose in Hilfseinrichtungen verteilt. So haben sie 1910 Obdachlose erreicht, die mindestens in der Stadt leben. Klar ist, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Experten aus der Wohnungslosenhilfe gehen nun davon aus, dass die wahre Zahl der Obdachlosen in Hamburg um mehrere Hundert höher liegt. Es fällt in Gesprächen sogar die geschätzte Zahl 3000.
Hitzige Diskussionen hinter den Kulissen
Seit Monaten ringt die Sozialbehörde in einem Arbeitskreis mit Verbänden wie dem Paritätischen, der Caritas und der Diakonie darum, eine gemeinsame Bewertung der Studienergebnisse zu finden. Man habe sich „inhaltlich intensiv und kontrovers“ mit der Erhebung auseinandergesetzt, heißt es aus Teilnehmerkreisen. Eigentlich hatten die Teilnehmer sich bis zu einer Einigung zur Verschwiegenheit verpflichtet. Dass ausgerechnet die Behörde nun eine Zahl in die Welt setzt, kritisiert die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) in einer Stellungnahme ungewöhnlich scharf.
Sauer stößt der AGFW auch auf, dass weitere Teilergebnisse der Studie in den Medien auftauchten. Unter anderem das Hamburger Abendblatt hatte berichtet, dass nur jeder Dritte befragte Obdachlose einen deutschen Pass gehabt habe. Die meisten kämen aus Osteuropa, dem Balkan und dem Baltikum. Eine naheliegende Interpretation: Ohne Migration wäre das Problem der Obdachlosigkeit in Hamburg viel kleiner.
Zuwanderer suchen Arbeit – und landen auf der Straße
Zuwanderung als Grund für Straßenobdachlosigkeit anzuführen, sei jedoch zu kurz gedacht, kritisiert AGFW-Geschäftsführerin Sandra Berkling. Vor allem, weil die meisten der zugewanderten Obdachlosen laut Studie auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gekommen seien – und nicht etwa in der Hoffnung, Sozialleistungen zu erhalten. Die Stadt sei unabhängig von ihrer Nationalität rechtlich dazu verpflichtet, sie unterzubringen – was diese allerdings anders sieht. „Dass die Zahl der obdachlos auf der Straße lebenden Menschen so stark angestiegen ist, ist vor allem die Folge eines unzureichenden Sicherungs- und Unterbringungssystems“, schlussfolgert Berkling.
„Es wird davon abgelenkt, dass seit Jahren in der Vermittlung von Wohnungslosen in Wohnungen viel zu wenig passiert.“– Dirk Hauer, Diakonie
Im Diakonischen Werk sieht man das ähnlich. „Es ist grundfalsch, verschiedene Gruppen von Menschen in existenzieller Not gegeneinander auszuspielen“, sagt der Leiter des Fachbereichs Migration und Existenzsicherung, Dirk Hauer. „Das verschleiert das wahre Problem.“
Er führt die 20.376 Wohnungslosen und Flüchtlinge an, die in den öffentlichen Unterkünften der Stadt leben und eigentlich ein Anrecht auf eine eigene Wohnung hätten. Seit Jahren würden zu wenige in Wohnraum vermittelt, kritisiert Hauer und fordert: „Für Wohnungslose muss der Zugang zum Wohnungsbestand drastisch vereinfacht werden.“
Verbände fordern mehr Wohnraum für Wohnungslose
Die AGFW, zu der auch die Diakonie gehört, fordert ebenfalls mehr Wohnungen für vordringlich Wohnungssuchende. „Der Senat muss die Befragung zum Anlass nehmen, um endlich lösungsorientierte Antworten auf Wohnungslosigkeit und Straßenobdachlosigkeit zu entwickeln“, sagt Sandra Bergkling.
Die ausführlichen Ergebnisse der Studie sollen noch in diesem Jahr veröffentlich werden – womöglich schon Anfang November. Dann beginnt übrigens auch das Winternotprogramm für Obdachlose mit 760 Schlafplätzen. Das sind mindestens 1150 Betten weniger, als es Obdachlose in der Stadt gibt.