Erst müssen die Bewohner vom Reetwerder überstürzt ihre Wohnungen verlassen. Dann verweigert die Vermieterin ihnen den Zugang zu ihrem Hab und Gut – monatelang.
Der Albtraum
Stellen Sie sich vor: In Ihrem Mietshaus gibt es einen Schwelbrand. Polizei und Feuerwehr rücken an, entdecken blank liegende Elektroleitungen und fehlende Rettungswege und alarmieren das Bezirksamt. Das erklärt das Haus umgehend für unbewohnbar und lässt Sie und die anderen Bewohner noch am selben Tag in eine städtische Notunterkunft bringen. Bei sich haben Sie nur die Kleidung, die Sie am Leib tragen, und ein paar Dinge, die Sie in aller Eile in eine Tasche gestopft haben. Alles andere bleibt zurück.
Während Sie sich fragen, wann Sie endlich in Ihre Wohnung zurückkehren können, dringen Männer in Ihre Wohnung ein. Dort stopfen sie Ihr Hab und Gut wahllos in Plastiksäcke – offenbar im Auftrag der Vermieterin. Ihr Eigentum wird gemeinsam mit dem anderer Mieter in drei Wohnungen im Haus geschafft und eingeschlossen.
Monate (!) später ist es Ihnen – trotz Klage, trotz Gerichtsurteil, das Ihnen Recht gibt – immer noch nicht gelungen, an Ihre Habseligkeiten zu kommen. Weil die Vermieterin sich weigert, die Türen zu öffnen. Und weil Gerichte und Stadt keine Möglichkeit sehen, sie dazu zu zwingen. Können Sie sich diesen Albtraum vorstellen?
Die Verhandlung
An einem Donnerstagvormittag Ende Juli reißt der Richterin am Amtsgericht Bergedorf nach einer Stunde schleppender Verhandlung der Geduldsfaden. Es ist heiß, und der Anwalt der Vermieterin hat wiederholt vorgetragen, dass er nicht viel sagen könne: Er sei gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, in dem seine Mandantin noch weile.
Es geht um die Klage von Ionel Lupu. Der 32-jährige Hinz&Kunzt-Mitarbeiter ist einer von rund 190 Menschen, die seit nunmehr zehn Wochen auf den Zugang zu ihrem Hab und Gut warten. Das soll sich laut Anwalt der Beklagten in mehr als 500 Plastiksäcken hinter drei Wohnungstüren im Reetwerder 3 befinden.
Die heutige Verhandlung ist bereits das fünfte Eilverfahren gegen die Vermieterin. Sie weigert sich trotz aller Urteile hartnäckig, die Türen zu öffnen – aus nicht erkennbaren Motiven. Wie bei allen vorausgegangenen Entscheidungen will das Gericht auch Ionel Lupu Zugang zu seinem Eigentum verschaffen. Nur wie? Selbst wenn die Mieter in das Haus kämen: Alles liegt wahllos verteilt in nicht gekennzeichneten Säcken. Und auch mithilfe eines Gerichtsvollziehers, der die Säcke durchsuchen lassen könnte, ließe sich die Herausgabe der persönlichen Sachen nur erzwingen, wenn die Gegenstände eindeutig identifizierbar wären. Das sei jedoch gerade bei Kleidung und anderen Alltagsgegenständen „bei dieser Sachlage – mit Ausnahme adressierter Unterlagen – nicht zu erwarten,“ so das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf. In den meisten Fällen konnte das Gericht die Vermieterin deshalb nur verpflichten, die Säcke mit den Sachen der Mieter in andere Räumlichkeiten zu transportieren und den Mietern dort zugänglich zu machen.
„Und was ist mit den Möbeln geschehen?“– Die Richterin
„Und was ist mit den Möbeln geschehen?“, hat die Richterin gefragt, und der Anwalt hat geantwortet: „Da bin ich eigentlich der falsche Ansprechpartner …“ Da bringt die genervte Richterin die Unverschämtheit mit zwei Sätzen auf den Punkt: „Ihre Mandantin hat doch dafür gesorgt, dass die Sachen verbracht wurden. Also ist es doch auch das Problem Ihrer Mandantin, dafür zu sorgen, dass die Menschen an ihre Sachen kommen!“
Die Familie
Wenn es so einfach wäre. „Wann bekommen die Mieter vom Reetwerder 3 Zugang zu ihren persönlichen Dingen?“ Diese und weitere Fragen stellt Hinz&Kunzt der Vermieterin Marlies F. einige Tage später über ihren Anwalt. Der reagiert mit nur einem Satz: „Es ist nicht ganz klar, wie Sie auf den Gedanken kommen, dass meine Mandantin Ihnen auch nur eine der gestellten Fragen beantwortet.“ Tags darauf teilt er mit, seine Mandantin habe „kein Interesse an einem Gespräch“. Interessiert sich diese Vermieterin denn gar nicht für das Schicksal ihrer Mieter?
„Es ist nicht ganz klar, wie Sie auf den Gedanken kommen, dass meine Mandantin Ihnen auch nur eine der gestellten Fragen beantwortet.“– Der Anwalt der Vermieterin
Wer Marlies F. das persönlich fragen möchte, muss in eine Kleinstadt im Herzen Schleswig-Holsteins fahren. Hier betreibt sie ein hübsches Café nahe des Marktplatzes. Kenner schnalzen mit der Zunge angesichts des liebevoll hergerichteten Altbaus, und den leckeren Kuchen backt die Café-Betreiberin nach eigenem Bekunden selbst.
Auf die Frage jedoch, warum sie den Mietern vom Reetwerder 3 nicht endlich Zugang zu ihrem Hab und Gut gewährt, antwortet sie nur mit einem maskenhaften Lächeln und den Sätzen: „Ich möchte dazu nichts sagen. Das muss ich ja nicht.“
Marlies F. und ihre Familie sind in der Kleinstadt durchaus bekannt. Ehemann Dietrich F. hat vor langer Zeit ein Palais am Marktplatz fachgerecht sanieren lassen. Öffentliche Gelder flossen, groß war die Hoffnung, dass das einzigartige Haus aus dem Dornröschenschlaf erweckt werden würde, in den es gefallen war. Doch es kam anders: Seit Jahren steht die einst adlige Residenz nahezu leer. Nur Sohn Daniel F., so erzählt man, wohnt in einem der vielen Zimmer des Hauses. Und eine Firma hat hier einen Briefkasten: die der Mutter und Vermieterin Marlies F.
Offen reden möchte in der Kleinstadt niemand über die Familie. Aktenkundig ist bei der Staatsanwaltschaft Lübeck: eine Anklage gegen Daniel F. „wegen des Verdachts der Sachbeschädigung und der Bedrohung zum Nachteil seines Vaters“ – die Verhandlung Mitte August musste vertagt werden, weil der Angeklagte nicht vor Gericht erschien. Auch die Kollegen in Hamburg haben Daniel F. angeklagt: wegen Nötigung in mehreren Fällen und gewerbsmäßigem Betrug in einem Mietshaus in Eilbek – ob und wann darüber verhandelt wird, muss nun ein Richter entscheiden. Wegen derselben Immobilie ermittelte die Staatsanwaltschaft darüber hinaus gegen Mutter Marlies F. wegen Mietwucher. Dieses Verfahren ist eingestellt: gegen Auf lagen und die Zahlung einer Geldbuße.
Aktuell hat die Vermieterin erneut Ärger mit der Justiz: Dieses Mal liegt eine Strafanzeige wegen Betrug vor – Tatort hier: der Reetwerder 3 in Bergedorf. Dort wiederum soll Sohn Daniel F. laut ehemaliger Bewohner regelmäßig die Miete bar eingetrieben haben.
„Ich möchte dazu nichts sagen. Das muss ich ja nicht.“– Die Vermieterin
Hinz&Kunzt sieht ihn erstmals im Café seiner Mutter. Gemeinsam mit den Eltern sitzt er an einem Tisch im Innenhof und hält einen Plausch. Er wolle später noch „meine Motorradjungs“ treffen, erzählt der geschniegelte Mittvierziger. „Du hast ja ein aufregendes Leben“, sagt Vater Dietrich F., woraufhin Sohn Daniel grinsend entgegnet: „Das hält jung.“
Kurze Zeit später steht Daniel F. vor einer Herrenboutique und raucht eine Zigarette. „Stimmt es, dass Sie die Mieten im Reetwerder 3 einkassiert haben?“, fragt ihn unser Redakteur. Die Antwort fällt so aggressiv wie deutlich aus: „Verpiss dich!“
So wenig gesprächsbereit wie der Geldeintreiber und seine Mutter ist Mirja F. Sie steht im Grundbuch und ist somit die Eigentümerin des Reetwerder 3. Formal ist sie also mindestens genauso verantwortlich für die Zustände im Haus wie die Vermieterin. Und nicht zufällig trägt sie den selben Nachnamen wie die anderen. Insider erzählen, dass sie die Ex-Frau von Daniel F. ist. Warum unternimmt sie nichts, um den offenkundigen Missstand zu beenden? Die wiederholten Nachfragen von Hinz&Kunzt blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Die Vorgeschichte
Genauso speziell wie die Geschichte der Familie ist auch die des Hauses. Im Frühjahr 2013 fallen Teile der Fassade auf den Bürgersteig. Glücklicherweise werden keine Passanten verletzt. Jahrelang bieten Prostituierte in dem denkmalgeschützten Gebäude ihre Dienste an. Später ziehen vor allem Menschen aus Rumänien, Bulgarien und der Türkei ein, die sonst auf dem Wohnungsmarkt kaum eine Chance haben. So wie Ionel Lupu, der sich als Hinz&Kunzt- Verkäufer über Wasser hielt, als er den Mietvertrag unterzeichnete.
Im März dieses Jahres rücken Mitarbeiter unterschiedlicher Behörden zu einem „Aktionstag“ im Haus an. Unter anderem gibt es Hinweise auf Mietwucher. Der Verdacht der Ämter ist begründet: Mieter zahlen hier 500 Euro warm pro Zimmer, für eine Vier-Zimmer- Altbauwohnung müssen sie laut Mietverträgen, die Hinz&Kunzt vorliegen, 2000 Euro pro Monat berappen.
Nach dem medienwirksamen Aufschlag der Stadt spitzt sich die Situation zu: Im April klagen Bewohner darüber, dass kein Wasser mehr aus den Hähnen fließt – die Vermieterin hat offenbar Rechnungen nicht bezahlt. Mitte Mai dann der Showdown: Die Feuerwehr wird gerufen, weil aus dem Keller des Gebäudes Rauch quillt. Blank liegende Stromkabel schmoren vor sich hin. Das Bezirksamt erklärt das Haus für unbewohnbar, die Bewohner müssen ihre Wohnungen überstürzt verlassen.
Die Stadt
Das Bezirksamt Bergedorf bleibt nicht untätig. Es fordert die Hausbesitzerin auf, die Elektroinstallationen umgehend instand setzen zu lassen. Bis heute geschieht das offenbar nicht.
Die Sozialbehörde wiederum organisiert für die Mieter nicht nur eine Notunterkunft. Weil unklar ist, wem was in den Plastiksäcken gehört, bietet eine Vertreterin der Behörde bei der Verhandlung am Amtsgericht Bergedorf sogar eine Lösung an: Die Stadt werde nach einer Lagerfläche suchen. Dorthin könne die Vermieterin die 500 Plastiksäcke bringen, um eine geordnete Übergabe zu ermöglichen. Eine Monatsmiete für die Halle werde seine Mandantin wohl zahlen, sagt der Anwalt von Marlies F.
Kurz darauf schreibt er einen Brief: Die Stadtreinigung möge den Transport übernehmen, und mehr als 500 Euro dürfe die Halle nicht kosten.
Auch die Sozialbehörde rudert ein Stück zurück. Mitte August erklärt sie, sie könne keine geeignete Fläche bereitstellen. „Es obliegt somit weiterhin ausschließlich der Vermieterin, eine entsprechende Lagerhalle anzumieten und die persönliche Habe der Mieter dorthin zu verbringen.“
Die Opfer
Leidtragende sind die Menschen, die vor mehr als drei Monaten ihre Wohnungen räumen mussten. Bitter für Ionel Lupu: Er hat wegen des Hickhacks seinen Sommerurlaub gestrichen – eigentlich wollte der Vater zweier Kinder mit seiner Familie nach Rumänien fahren.
Immerhin gehört der Hinz&Kunzt-Mitarbeiter zu den wenigen, die eine neue Wohnung gefunden haben. Ein teures Unterfangen: Schließlich musste sich die Familie komplett neu einrichten, weil sie keinen Zugang zu ihrem Hab und Gut erhält.
Mitte August bietet ein Makler die Immobilie Reetwerder 3 auf einem Onlineportal zum Kauf an. Preis: sechs Millionen Euro. Laut Exposé kann der Käufer angeblich auswählen, „ob das Objekt frei von Privatmietern oder vollständig vermietet übergeben werden soll“ – eine sehr eigenwillige Interpretation der Rechtslage, zumal die Mietverträge der ausgesperrten Bewohner offenbar nie gekündigt wurden. Offenkundig wollen die F.’s noch schnelles Geld machen. Laut Gerichtspressestelle ist die Zwangsversteigerung der Immobilie bereits angeordnet.
Die Mietschützerin
Bis Redaktionsschluss (20. August) war unklar, wie es für die ehemaligen Bewohner vom Reetwerder weitergeht. Mieterschützerin Sylvia Sonnemann sieht die Behörden weiter in der Pflicht: „Wenn die Vermieterin sich nicht kümmert, muss die Stadt an ihrer Stelle eine Halle anmieten und ihr die Kosten anschließend in Rechnung stellen.“ Und das Bezirksamt müsse seine Forderungen mit allen Mitteln durchsetzen.
Immerhin: Mieter helfen Mietern hat die Vertretung von elf Mietparteien übernommen. Sonnemann will Vermieterin Marlies F. nach wiederholten erfolglosen Aufforderungen nun auf Instandsetzung der Wohnungen verklagen – bis ein Gericht darüber entscheidet, werden vermutlich Monate vergehen.
Update:
In einer älteren Version des Artikels hatten wir geschrieben: „Und selbst ein Gerichtsvollzieher, der die Urteile vollstrecken könnte, wird nicht 500 Plastiksäcke durchsuchen, um die Habseligkeiten jeder einzelnen Familie herauszusammeln, so das Amtsgericht Bergedorf in einem seiner Urteile.“ Diese Darstellung ist nicht korrekt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. Jetzt heißt es an dieser Stelle: „Und auch mithilfe eines Gerichtsvollziehers, der die Säcke durchsuchen lassen könnte, ließe sich die Herausgabe der persönlichen Sachen nur erzwingen, wenn die Gegenstände eindeutig identifizierbar wären. Das sei jedoch gerade bei Kleidung und anderen Alltagsgegenständen „bei dieser Sachlage – mit Ausnahme adressierter Unterlagen – nicht zu erwarten,“ so das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf. In den meisten Fällen konnte das Gericht die Vermieterin deshalb nur verpflichten, die Säcke mit den Sachen der Mieter in andere Räumlichkeiten zu transportieren und den Mietern dort zugänglich zu machen.“