„Und ich dachte, ich könnte dich retten“

NDR-Moderatorin Tina Wolf schreibt nach dem Tod ihres alkoholkranken Vaters ein Buch über ihn, ihr gemeinsames Leid und ihre eigene Hilflosigkeit.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Ich war Zeugin eines Selbstmordes auf Raten. 17 Jahre lang musste ich mit ansehen, wie mein Vater sich krank- und schließlich tottrank.“ Der Tod steht am Anfang des Buches der Hamburger Journalistin Tina Wolf (36). Der Tod des Vaters, der – so makaber es klingt – zugleich ein Neuanfang für die Tochter war. Denn die Alkoholsucht des geliebten Vaters bestimmte jahrelang das Leben seiner Tochter. Zwang sie in ein Leben zwischen Verdrängen, Verschweigen, schamhaftem Leiden und dem verzweifelten Willen, den Vater zu retten. „Es war mein größter Wunsch, sein Leben zu verändern, ihn glücklich zu machen, zufrieden. Dass man in das Leben eines anderen Menschen nur eingreifen kann, wenn dieser es zulässt, habe ich erst Jahre später erkannt.“

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Für Tina Wolf, die heute als Moderatorin beim NDR in Schwerin arbeitet, wird das Buch über ihren kranken Vater eine schonungslos ehrliche Abrechnung mit der Vergangenheit, mit Verwandten und Kollegen des Vaters, die jahrelang schweigen. Die tatenlos zusehen, wie sich ein Mensch vor ihren Augen zugrunde säuft. Und sie stellt Fragen: Warum wird ein normaler junger Mann, mit einer Frau und einer kleinen Tochter, einem kleinen Haus, Freunden, einem normalen Leben, zum Alkoholiker? „Wie konnte es passieren, dass du so aus dieser Normalität herausgefallen bist – alles verloren hast? Was ist mit dir geschehen?“
„Weich, warmherzig und sanftmütig“ sehe ihr Vater Bernhard auf alten Fotos aus. „Liebenswürdig, gutmütig. Zu gut?“, fragt sich Tina Wolf zehn Jahre nach seinem Tod. Denn das Leben in der Kleinstadt nördlich von Hamburg war nur vordergründig intakt. „Mein Großvater war eine bekannte Persönlichkeit im Ort. Er hat nach dem Krieg einen Betrieb mit aufgebaut.“ Über Probleme in der Familie wurde nie gesprochen. Nicht über den früh verstorbenen Onkel, der in der Nervenklinik lebte. Nicht über die Herzprobleme des Opas. Nicht über den Alkohol. Immer wurde Haltung bewahrt: „Es gab offiziell keine Probleme.“ Dennoch empfand Tina Wolf schon als kleines Kind die Besuche bei den Großeltern als bedrückend: „Meine Großmutter hatte etwas Kühles, Vornehmes, Distanziertes. Ich hätte nie gewagt, in normaler Kleidung zu ihnen zu kommen. Rock und Bluse mussten sein. Ich trug eine Maske.“
Liegt hier auch die Ursache für das Alkoholproblem des Vaters? Der wollte eigentlich Künstler werden. „Es war Bernhards größter Wunsch, nach der Schule an eine Kunsthochschule zu gehen, um seiner Begabung zu folgen und sein Talent zum Beruf zu machen“, erinnert sich Tina Wolf. „Mein Großvater hielt nichts von seinen Träumen. So machte mein Vater eine kaufmännische Ausbildung und fing in dem Betrieb an zu arbeiten, in dem mein Großvater als Geschäftsführer tätig war.“ Er habe sich nicht gegen seinen Vater durchsetzen können. „Er wollte eigentlich immer ein anderes Leben führen. Der Wunsch, etwas Kreatives zu machen, hat ihn sein Leben lang begleitet.“ Und: „Der Alkohol bekam eine neue Funktion. Den nicht erfüllten Lebenstraum hinunterzuspülen, ihn zu unterdrücken.“
Sie selbst sei immer sehr stolz auf die Ölgemälde des Vaters gewesen. „Wurde ich gefragt, was er beruflich mache, so sagte ich: Er malt. Seine Arbeit im Rechenzentrum verschwieg ich. Mein Vater war Künstler. Ein besonderer Mann. Als er drei Jahre vor seinem Tod aufhörte zu malen, bekam ich Angst. Malen war sein Leben.“
Lange Zeit erkannte Tina Wolf die Abhängigkeit ihres Vaters nicht. „Ich lebte zwischen dem Verdrängen des Alkoholproblems und der immer wiederkehrenden Konfrontation mit dem, was war. Ich wollte nicht wahrhaben, dass mein Vater ein Alkoholproblem hatte.“ Jahrelang hielt Bernhard die Fassade aufrecht: Er ging einer festen Arbeit nach, seine Wohnung war sauber und stilvoll eingerichtet, er schlug weder Frau noch Kind, war freundlich und zuvorkommend. „Das Einzige, woran man erkennen konnte, dass er Alkoholiker war, war sein aufgequollenes Gesicht und der Inhalt seines Einkaufswagens. Meist sechs Flaschen. Rotwein, Weißwein, Champagner und gelegentlich Bier.“
Irgendwann war das Alkoholproblem nicht mehr zu übersehen. Eine Kollegin des Vaters öffnete der Mutter von Tina Wolf die Augen: „Merken Sie nicht, dass Ihr Mann eine Alkoholfahne hat?“ Ihr Vater hatte sich im Laufe der Sucht verändert. Er kapselte sich ab, wollte nichts mehr mit der Familie unternehmen. „Eines Morgens konnte er nicht mehr zur Arbeit gehen, lag verkatert im Bett. Meine Mutter log für ihn, behauptete er wäre krank.“
Irgendwann habe er ein Single-Dasein geführt, „mitten unter uns“. „Eine Therapie lehnte mein Vater ab, da er überzeugt war, sie nicht zu brauchen. Er glaubte tatsächlich, man sähe ihm sein Problem nicht an.“ Doch dann ließen sich die körperlichen Beschwerden nicht mehr verbergen: Bernhard wurde bewusstlos in einem Park aufgefunden: Kreislaufkollaps. Doch wieder griff er zur Flasche.
Als Tina Wolf elf Jahre alt war, trennten sich die Eltern. „Ich bin allein gegen den Strom geschwommen. Und ich bin nicht dagegen angekommen“, erklärt ihre Mutter später. „Man kann niemanden retten, der das nicht selbst will.“
Ihren Vater sah Tina nur bei Besuchen. Wenn sie das Thema Alkohol ansprach, reagierte der Vater erbost, sprach wochenlang nicht mit ihr. Trotzdem glaubte die Tochter noch immer, ihren Vater retten zu können. „Ich besorgte mir einen Termin bei seinem Arbeitgeber. Mir wurde absolute Diskre­tion zugesagt.“ Doch Bernhard erfuhr von dem Besuch. Er fühlte sich hintergangen, schimpfte mit seiner Tochter, die nur sein Leben retten wollte.
Tina Wolf verdrängte die Sucht des Vaters, versuchte ihren eigenen Weg zu finden. Sie brach mit Anfang Zwanzig die Ausbildung als Fotografin ab. Verschwand für ein Jahr ans andere Ende der Welt. „Ich war surfen auf Hawaii, hab relaxt und mich in die falschen Männer verliebt“, fasst sie die Zeit heute zusammen. Zurück in Deutschland bekam sie einen Job als Kamera­assistentin beim Fernsehen, absolvierte ein Praktikum bei der Welt am Sonntag. Alles lief gut. Dann plötzlich die Nachricht aus dem Krankenhaus: „Ihr Vater ist vor einer Viertelstunde gestorben.“
„Er war tot und ich konnte nicht sagen, warum mein Vater Alkoholiker wurde“, erinnert sich Tina Wolf. „Ich hatte ihn nie gefragt.“ Sie habe immer Angst gehabt, dass er sie nicht mehr lieben würde, wenn sie sein Problem offen anspricht. „Meine Mutter konnte sich scheiden lassen, aber ich blieb seine Tochter, ein Leben lang.“
Gleich nach seinem Tod begann Tina Wolf mit der Arbeit an dem Buch über ihren Vater. „Es hat mir geholfen, mir über unser Verhältnis klar zu werden und ich hoffe, dass ich auch anderen Betroffenen, Alkoholikern und ihren Familien helfen kann.“ Besonders bitter ist für sie, dass sie auch jetzt noch – nach dem Tod des Vaters – für seine Sucht bezahlen muss. Im wahrsten Sinne des Wortes: „Ich habe den Fehler gemacht, das Erbe meines Vaters anzunehmen“, erzählt sie. „Ich wollte seine persönlichen Sachen haben, die Bilder, die er gemalt hat.“ Doch mit den Hinterlassenschaften erbte sie auch unbezahlte Kredite. „Ich hab 90.000 Euro Schulden, und die werde ich wahrscheinlich mein Leben lang mit mir rumschleppen.“
Mit dem Tod des Vaters kam auch die Wut. Wut darüber, dass so viele Menschen die Sucht ihres Vaters gedeckt haben, seine eigenen Eltern, denen es peinlich gewesen wäre, sich zu dem trinkenden Sohn zu bekennen. Die Chefs und Kollegen, die die Sucht des Vaters so lange nicht ansprachen, wie er brav und unauffällig seinen Job machte. Die Banken und Immobilienmakler, die dem schwer alkoholkranken Mann Eigentumswohnungen verkauften und finanzierten.
Doch Tina Wolf beißt sich durch das schier undurchdringliche Dickicht aus Schulden und der Last der Erinnerung: Sie bekommt ihren Traumjob als Moderatorin. Seit sechs Jahren moderiert sie in Schwerin die Sendung „Land und Leute“, lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem gemütlichen Haus in Rahlstedt. Und „so ganz nebenbei“ arbeitet sie an ihren nächsten Buchprojekten, einem Kinderbuch und einem Buch mit Kurzgeschichten.
Ab und zu hält sie Lesungen, spricht mit Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben. Ihr Fazit: „Man muss den Mut finden, mit dem Süchtigen zu reden. Es ist auf jeden Fall besser, das Thema offen anzusprechen – auch wenn man sich Ärger einhandelt. Sonst fragt man sich irgendwann, wenn es zu spät ist: Warum habe ich nichts getan?“
Ihr selbst bleiben vom Vater nur wenige ungetrübte Erinnerungen, wie zum Beispiel an einen Winterurlaub in Schweden: „Ich sehe mich mit meinem Vater auf unserem Schlitten den Hügel zum See hinuntersausen. Heute kommt es mir so vor, als sei diese Fahrt ein Abbild des Lebensabschnittes, den wir gemeinsam verbracht haben: Er verging viel zu schnell. Wir saßen hintereinander und konnten uns nicht unterhalten.“

Tina Wolf: „Und ich dachte, ich könnte dich retten“, Ingo Koch Verlag Rostock, 12 Euro.
Alkoholkranke bekommen Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern: www.anonyme-alkoholiker.de, aa-kontakt@anonyme-alkoholiker.de

Text: Petra Neumann
Fotos: Mauricio Bustamante

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