Nach jahrzehntelanger Verweigerungshaltung will die Bundesregierung nun doch eine Statistik über die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland einführen. Ein wichtiger Schritt.
Wie viele Wohnungslose gibt es in Deutschland? Man kann es nur schätzen, denn genaue Zahlen gibt es nicht. Jahrzehntelang haben sich Bundesregierungen gesträubt, eine bundesweite Statistik einzuführen, anhand derer man den Hilfebedarf von Menschen ohne Wohnung verlässlich bestimmen könnte.
Stattdessen hat auch die aktuelle Regierung immer wieder auf die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) verwiesen, die auf 335.000 Wohnungslose im Land kommt. Noch im November betonte Annette Kramme, Staatssekretärin im Sozialministerium: „Die Bundesregierung wird auch in Zukunft keine Statistik zur Zahl der wohnungslosen Menschen erheben.“
Nahles macht eine Kehrtwende
Doch plötzlich kommt Bewegung in die Sache: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales setzt sich dafür ein, eine Bundeswohnungslosenstatistik zu etablieren“, heißt es nun auf Nachfrage aus dem Haus von Ministerin Andrea Nahles (SPD). Nach Hinz&Kunzt-Informationen hat Nahles die Kehrtwende erstmals im Januar vor Experten verkündet. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der im April veröffentlicht wurde, heißt es dann schon, die Bundesregierung werde auf eine solche Statistik „hinwirken“.
Die Vorbereitungen im Ministerium laufen inzwischen: Ministeriumsvertreter haben sich sowohl mit dem Statistischen Bundesamt als auch mit der BAG W zu Vorgesprächen getroffen. Im Juni war die geplante Statistik auch Thema bei Bund-Länder-Gesprächen.
Bundestagswahl entscheidet über Statistik
„Wir fordern das seit über 30 Jahren. So dicht dran waren wir noch nie.“– Thomas Specht, BAG W
Für den Geschäftsführer der BAG W, Thomas Specht, ist das ein bedeutender Schritt. Seine jahrzehntelange Lobbyarbeit trägt endlich Früchte: „Wir fordern das seit über 30 Jahren“, sagt er im Gespräch mit Hinz&Kunzt. „So dicht dran waren wir noch nie.“
Wichtig sei eine solche Statistik insbesondere für die Ermittlung des Wohnraumbedarfs und die Steuerung des sozialen Wohnungsbaus, sagt Specht: „Wenn man weiß, wo es besonders viele Wohnungslose gibt, kann man da Fördermittel konzentrieren und Wohnungslosigkeit effektiver bekämpfen.“
Ob die Statistik allerdings wirklich kommt, hängt vom Ergebnis der Bundestagswahl ab. In dieser Legislaturperiode könne sie nicht mehr beschlossen werden, heißt es aus dem Ministerium. Sollte die SPD das Sozialministerium oder gar ihre Regierungsbeteiligung verlieren, müsste ihr Nachfolger von der Notwendigkeit der Statistik überzeugt werden. Thomas Specht sagt: „Wie beim Fußball kann auch in den letzten Minuten noch ein Gegentor fallen.“