Psychische Erkrankungen sind oft ein Grund für Obdachlosigkeit. Wir haben Rudolf B. getroffen, bei dem es so war. Im Juni haben wir gemeinsam mit „Flexibles Flimmern“ einen Film darüber gezeigt.
„Das Schweigen spricht. Ich höre meinen Atem. Selbstgespräche, immer wieder.“
Messerscharf spricht Rudolf D. (52) die Sätze aus, seine Augen funkeln durch die Brillengläser, seine Stimme wächst bis in den hintersten Winkel des Raums. Früher füllte er Theatersäle mit dieser Stimme, zum großen Finale des Stücks „Abwärts zu den Sternen“. Zwölf Jahre ist es her, dass er mit dem Laienensemble „Obdach-Fertig-Los“ auf der Bühne stand. Der Text sitzt immer noch bis ins letzte Komma. „Ja“, sagt Rudolf D. und lächelt. „Der passt zu mir.“
Wir sind hier alle ein bisschen matschig in der Birne.– Rudolf D.
Er atmet durch und der Raum, der eben noch Bühne war, wird wieder zu seinem Zimmer. Durch das Fenster zum Balkon fällt graues Tageslicht auf den PVC-Boden, draußen plätschert der Regen auf die benachbarte Brachfläche. Pkw, Laster, Krankenwagen rasen über die Spaldingstraße. „Es ist auch ein bisschen wie Kino hier“, sagt Rudolf D. Seit neun Monaten lebt er jetzt im Wohnprojekt Münze. Es fühlt sich genau richtig an, sagt er. „Wir sind hier alle ein bisschen matschig in der Birne.“ Darf er so sagen. Er meint sich ja auch selbst: Bipolare Störung heißt das in seinem Fall, korrekterweise.
Jahrelang lebte Rudolf D. über seine Krankheit hinweg. Er arbeitete als Fahrer für einen Zeitungsverlag, fuhr 1500 Kilometer pro Tag. Als es Streit gab mit dem Chef, schmiss er hin. Ging nicht mehr zur Arbeit, nicht mehr in seine Dienstwohnung. Rudolf D. wurde obdachlos, ein Alarmzeichen – doch er wusste es nicht zu deuten. Es ging ja auch wieder bergauf, als er zum Obdachlosentheater stieß und dort einen richtig guten Freund fand. Dann eine neue Wohnung, ein neuer Job. Nach außen schien alles im Lot. Nach innen schaute Rudolf D. nicht gern. Selbst als die Krankheit ihm akut gefährlich wurde, wollte er von einer Diagnose nichts wissen.
„Ich werd euch zeigen, was für ein toller Kerl ich bin. Alle Geräte werde ich anmachen, Tag und Nacht volle Lautstärke. Und ich werd lachen, haaa! Lachen werd ich! Und nachts um zwei werde ich auf den Balkon gehen und sagen: Ich lebe! Ich lebe!“
So wie in seinem Bühnentext fühlte sich für Rudolf D. die Manie an – das eine Extrem der bipolaren Störung. Die Krankheit, die früher als „manisch-depressiv“ beschrieben wurde, verläuft in Phasen, die einen Menschen völlig aus der Bahn werfen können. „In einer manischen Phase hat man erst unheimlich viel Energie und positive Stimmung“, erklärt Professor Thomas Bock, Psychologe am UKE und Mitgründer des Vereins „Irre menschlich“. Das Hochgefühl ist jedoch trügerisch. „Es beginnt überzuborden, man fängt ganz viele Sachen an, bringt sie nicht zu Ende und wird immer hektischer.“ Was als fröhlicher Tatendrang anfing, wird zum alles bestimmenden Chaos.
Den Kontrollverlust habe er selbst gar nicht bemerkt, sagt Rudolf D. Bis es eines Tages brenzlig wurde. „Ich hatte den Zwang, U-Bahn zu fahren. Egal wohin“, erzählt er. Ständig stieg er von einer Linie in die nächste um. „Die Bahn fuhr rein und auf einmal kam mir der Gedanke: Was, wenn du jetzt einen Schritt vorwärts machst?“
Er stockt. Das war mehr als ein absurder Einfall damals – der Gedanke drängte sich auf, wurde übermächtig. Da merkte Rudolf D., dass er sich selbst nicht mehr trauen konnte. „Das hat mir unheimlich Angst gemacht.“ Er riss sich vom Bahnsteig los, versuchte sich mit Busfahren zu beruhigen. Dann rief er seinen Freund aus der Theatergruppe an: „Gerhard, ich weiß nicht mehr weiter.“ Der lud ihn ins Auto, fuhr mit ihm nach Ochsenzoll.
Vier Wochen blieb Rudolf D. in der Psychiatrie. Was ihm das bringen sollte, war ihm damals schleierhaft. „Ich habe mich gefühlt wie aufbewahrt“, sagt er. Es werde schon wieder, sagten die Ärzte. „Aber in einer depressiven Phase glaubt man das nicht“, sagt Rudolf D. An Therapie oder seelischen Beistand kann er sich nicht erinnern. „Am Ende hatte es etwas von Urlaub.“ Ein Urlaub, den er nie gebucht hatte. Fremde Leute, nichts zu tun. Nur furchtbare Leere. So kam ihm das damals vor.
„Mich hat noch nie jemand besucht. Noch nie hat das blöde Telefon geklingelt, es hat sich noch nicht einmal jemand verwählt und aus Versehen bei mir angerufen. Ab und zu rufe ich die Zeitansage an, um eine andere Stimme zu hören als meine eigene.“
Das ist das andere Extrem: die Talfahrt in die Depression. Die Gedanken werden unheimlich schwer. Man ist in sich gekehrt, manchmal auch aggressiv gegenüber sich selbst, erklärt Thomas Bock: „Im schlimmsten Fall schafft man es nicht mehr, irgendetwas zu wollen.“
In einer depressiven Phase ist man völlig hilflos.– Rudolf D.
Rudolf D. verließ die Psychiatrie, ohne wissen zu wollen, was mit ihm los war. Er war nie der Typ, der seine Patientenakte auswendig lernen würde. Sein Seelenleben zu ergründen, lag ihm erst recht fern. Und von den Bekannten fragte niemand ernsthaft nach. Vielleicht hätte er sonst gemerkt, wie schnell er schon früher ins Extrem verfiel. Dass er dabei war, den Halt zu verlieren, als er Job und Wohnung aufgab. Er lief die Mönckebergstraße hoch und runter, bis er nicht mehr konnte. „Abends habe ich die Leute gesehen, die in den Ladeneingängen lagen.“ Er atmet tief ein und sagt: „Ich habe die bewundert.“ Sie hatten einen Platz, wo sie zur Ruhe kommen würden, dachte er. Er selbst war ohne Rast. Völlig erschöpft verbrachte er die Nacht vor dem Hauptbahnhof.
Filmabende: Die Summe meiner einzelnen Teile
20. Juni: Prof. Dr. Peter Ostendorf, Praxis ohne Grenzen, spricht vor dem Film über seinen Alltag bei der kostenlosen Behandlung von Menschen ohne Versicherung. www.praxisohnegrenzen.de.
21. Juni: Annette Antkowiak, Koordinatorin des Caritas-Krankenmobils und Sozialarbeiter Thorsten Eikmeyer, Caritas-Krankenstube, geben Einblicke in die ambulante medizinische Versorgung von Obdachlosen. www.huklink.de/caritas-krankenmobil
Für die Stärkung vor dem Film sorgen zwei Hinz&Künztler: Chris und Reiner servieren selbst gemachte Kartoffelsuppe und Kartoffelsalat mit Buletten.
Eintritt: 12 Euro (davon 3 Euro Spende), Einlass: jeweils 19 Uhr, Beginn 20 Uhr, Anmeldung erforderlich unter reservierungen@flexiblesflimmern.de
Ort: Medizinhistorisches Museum Hamburg, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Fritz-Schumacher-Haus (Gebäude N30 b), Martinistr. 52
In dem denkmalgeschützten Haus in der ehemaligen Pathologie des UKE gibt das medizinhistorische Museum einen Einblick in 150 Jahre Medizingeschichte. Ein Teil der Räume ist zum Filmabend geöffnet. Reguläre Öffnungszeiten: Sa und So, 13 bis 18 Uhr, Öffentliche Führung So, 15 Uhr, Eintritt 6/4 Euro, www.huklink.de/medizinhistorisches-museum
Die neun Monate draußen, die darauf folgten, sie hätten der finale Tiefpunkt werden können. Doch Rudolf D. hatte Glück. Straßensozialarbeiter der Caritas verschafften ihm eine Bleibe. Er fing in einer Recyclingfirma an, hatte einen Chef, der es ihm nachsah, wenn er es in depressiven Phasen morgens nicht in die Firma schaffte. Beim Theater „Obdach-Fertig-Los“ schrieb er nun die Stücke. Und er traf auf einen Arzt, der ihn mit seiner psychischen Erkrankung konfrontierte, als Rudolf D. bei einem Klinikaufenthalt eine manische Phase durchmachte. „Ich dachte erst: Was will der von mir?“, erzählt Rudolf D. „Heute muss ich ihm Recht geben.“
„Das Schweigen spricht, ich höre meinen Atem. Selbstgespräche, immer wieder.
Gleich kommt die Schwester mit den Tabletten.
Aufstehen darf ich noch nicht. Denn jetzt bin ich ja psychisch krank, hat der Arzt gesagt.“
Was hat sich geändert seit der Diagnose? „Mein Leben ist bedeutend schwieriger geworden“, sagt Rudolf D. Ständig ist er nun auf der Hut: Ist das noch gute Laune, oder will ich schon wieder mit dem Kopf durch die Wand? „Ich möchte diesen Kampf nicht mehr haben, dieses ständige Hinterfragen“, sagt er. Bald wird er seine erste Therapie antreten. Dass der Weg dorthin lange dauert, ist laut Psychologe Thomas Bock nicht selten – es braucht Vertrauen, ihn zu gehen. Die Therapie soll Rudolf D. helfen, sein Mittelmaß zu finden. Und zu halten. Eine große Kunst, sagt Bock. Nicht nur kranken Menschen falle es schwer, sich mit einem gleichförmigen Leben zufriedenzugeben.
Rudolf D. in seinem Zimmer mit dem PVC-Boden und dem Verkehr vor dem Fenster ist schon ziemlich gut darin. Es klappt jetzt besser, die Seele in Balance zu halten, sagt er. Seine Nachbarn und Bekannten helfen ihm dabei. Sie kennen sich aus mit seelischen Schwankungen und wollen ihm Bescheid geben, wenn er sich auffällig verhält. Bisher haben sie noch nichts gesagt – ein gutes Zeichen. Außerdem trifft sich Rudolf D. regelmäßig mit seiner Recovery-Gruppe, in der er seine Stärken zur Geltung bringen kann, seine Offenheit und Kreativität. „Bei mir ist ja nicht alles krank“, sagt er. Heute weiß er, dass er sich wegen seiner Krankheit nicht verstecken muss. Es kann schließlich jeden treffen. „Wir haben eine Diagnose“, sagt Rudolf D. „Aber viele Tausende da draußen laufen genau so rum wie wir. Die wissen nur nicht, dass sie krank sind.“