Sich einmischen, keine Angst haben vor der eigenen Angst – das ist das Lebensmotto des Dichters Wolf Biermann. Durch 80 bewegte Lebensjahre hat es den Künstler gut getragen. Von ihm aus können es noch ein paar Jahre mehr werden: „Ich werde noch gebraucht.“
Die Stimme klingt Jahrzehnte jünger. Beim Sprechen, erst recht beim Singen. Die Augen blitzen, die Handschrift ist gestochen klar, auch nach dem zweihundertsten Tagebuch seit 1954. Wenn Wolf Biermann in seinem Altonaer Haus mal eben die Treppe hochspringt, um ein neues Gedicht zu holen, ist man versucht, die Zeile mit den knirschenden Knochen als dichterische Koketterie abzutun. Den Interview- Marathon rund um seine Autobiografie „Warte nicht auf bessre Zeiten“ hat er fast hinter sich. Das Buch „Im Bernstein der Balladen“ mit Liedern und Gedichten aus mehr als fünf Jahrzehnten ist erschienen. Die neue CD mit seiner Frau Pamela und dem ZentralQuartett auch. Viel Zeit zum Durchatmen bleibt ihm aber nicht: Vor ihm liegen Lesungen, Konzerte – und sein 80. Geburtstag am 15. November.
Über Bücher und CDs wollen wir nicht mit ihm reden, sondern über das Älterwerden und Alter. Die Gitarre in Reichweite macht sich’s der Dichter auf dem Ohrensessel bequem, auf dem in der Chausseestraße 131 in Ostberlin schon Margot Honecker saß, als sie ihn von seinem DDR-schädlichen Treiben abbringen wollte. Älterwerden? Er knurrt ein bisschen. Und sagt: „Ja. Gut. Bitte schön.“
Hinz&Kunzt: Wann haben Sie das erste Mal gedacht: Biermann, jetzt wirst du wirklich alt?
Wolf Biermann (denkt lange nach): Einmal hab ich es gemerkt – und hab mich gefreut. Das war am 15. November 1976. Zwei Tage vorher, am 13. November, hatte mein Vater Geburtstag, und an diesem Tag fand zufällig das Kölner Konzert statt, das mein ganzes Leben verändert hat. Als ich dann am 15. November 40 Jahre alt wurde, war ich glücklich. Ich dachte: Immerhin habe ich es jetzt geschafft, älter zu werden als mein Vater, der mit 39 ermordet wurde. Das war für mich ein Triumph. Es geht vorwärts mit der Menschheit, wenn es dem Sohn gelingt, älter als der Vater zu werden. Seitdem wundere ich mich, dass ich immer noch lebe – überhaupt wundere ich mich, dass ich lebe.
Haben Sie Angst vorm Älterwerden?
Nein. Aber wahrscheinlich, weil ich nicht weiß, wovon ich spreche. Natürlich lassen die Kräfte nach, aber man hat auch mehr Erfahrung und kann sie besser einsetzen. Als ich in Ostberlin, in der DDR lebte, hatten wir einen komischen Schnack auf den Lippen. Wenn man auf der Straße irgendeinen Freund traf und der fragte mit Grabesstimme oder auch Seelsorgerschwingungen in der Stimme: „Wie geht es dir?“ Und man keine Lust hatte, dem zu sagen: „Weißt du, ich kann grade nicht scheißen, oder mir steht die Pfeife nicht, oder ich hab Zahnschmerzen“ – will man ja alles nicht erzählen – dann sagte man in Ostberlin: „Alle Geräte arbeiten normal!“ (er wiederholt das auf Russisch). Das war ein politischer Witz. Die Russen hatten einen Sputnik – einen Satelliten, sagt man im Westen – ins Weltall gejagt. Darin auch eine Attraktion: zum ersten Mal ein lebendes Wesen, einen Hund. Immer wenn die sowjetische Nachrichtenagentur eine neue Nachricht hatte vom Sputnik – der Hund Laika war längst krepiert, was der Klassenfeind nicht merken sollte – kam nur standardmäßig dieser eine Satz. „Alle Geräte arbeiten normal.“ Das hieß bei uns: „Lasst mich doch in Ruh mit solchen Fragen.“
Aber die 80 sind nun mal eine Tatsache, oder?
Die Bombennacht im Juli 1943, als ich sechseinhalb war und meine Mutter mit mir auf dem Rücken durch den Mittelkanal in Hammerbrook aus dem Feuer geflohen ist, hat sich eingebrannt in mein Gedächtnis. Davor und danach weiß ich nichts, aber von dieser Nacht weiß ich jedes Wort, jedes Gesicht, jede Farbe, jeden Geruch und jedes Bild. Und als ich viele Jahre später das berühmte Foto sah von der Uhr in Hiroshima, deren Zifferblatt im Moment der Explosion mit den Zeigern verschmolzen ist, dachte ich: „Das ist wie bei mir – meine Lebensuhr ist in dieser Nacht des 28. Juli 43 auch festgeschmolzen in meinem Rippenkäfig“, und seitdem bleibe ich mein Leben lang sechseinhalb Jahre alt. Das ist auch der Grund, warum ich Gedichte schreibe und keine Romane – weil ich die Welt mit einem Kinderauge sehe. Ich bin sechseinhalb. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Jude, deswegen bin ich 120 wie alle Juden – wir kommen ja schon von weiter her. Also habe ich überhaupt kein Gefühl für das Älterwerden: Ich bin immer der Jüngste und immer der Älteste.
Sie haben Kinder gezeugt, Bäume gepflanzt und ausgerissen, ein Haus ist da – was steht jetzt noch auf Ihrer Liste?
Weiß ich nicht, dazu reicht meine Fantasie nicht aus. Ich wäre am liebsten Handwerker. Ich habe mal mit großem Vergnügen Gitarrenbauen gelernt. Handwerk ist für mich so angenehm, weil da die Seele ausruhen kann. Man macht etwas und ist einigermaßen sicher, dass man damit fertig wird. Wenn man aber Gedichte schreiben will, ist man immer der Anfänger, der zittert, ob er etwas zustande bringt und ob ihn die Muse noch mal küsst. Und welche Muse mag schon einen alten Mann von 80 Jahren küssen? Also muss er sie verführen. Natürlich hab ich da so meine Tricks: Gitarre spielen zum Beispiel. Brecht schrieb mal: „Geld macht sinnlich“ – weil er witzig sein wollte – aber da gibt es viele Dinge im Spiel der Geschlechter.
Auf was in Ihrem Leben sind Sie stolz?
(Lange Pause) Das weiß ich nicht. Das ist ’ne Haltung, die mir fremd ist. Ich bin stolz gegen Leute, die mich demütigen wollen. Als mein Vater 1937 vor dem Volksgerichtshof stand als Kommunist, weil er gegen die Nazis gekämpft hat, fragte der Richter am Anfang Name, Geburtsdatum, Beruf – was so gefragt wird. Und dann: Religion? Und mein Vater, der ja ein Kommunist war, der wollte Mensch sein und nicht Jude oder Christ oder Kaninchenzüchter, sagte nichts. Und der Richter diktierte: „Religion – keine.“ Was ja in der Nazizeit eher günstig war. Und was macht mein Vater? Er steht auf und sagt: „Ich bin Jude.“ Er war nicht stolz, weil er Jude ist, sondern stolz gegen die, die Juden verfolgen, diese Verbrecher. Dieser Stolz ist mir geläufig.
Dankbarkeit gibt’s fast schon als Inflation bei mir.– Wolf Biermann
Wofür sind Sie dankbar?
Ach, Dankbarkeit gibt’s fast schon als Inflation bei mir, weil ich so viele Menschen getroffen habe, denen ich dankbar sein muss und auch dankbar sein will, dass es mir fast komisch vorkommt – wie die Frage, ob ich Luft hole. Ich musste ja unbedingt mit 16 in die DDR gehen, ich brauchte diese Lektion. Nicht als Revolutionstourist, sondern ohne Rückfahrkarte. Hätte ich das nicht gemacht, wäre ich nicht der Biermann geworden, sondern wäre völlig verfault und verblödet. Ich hätte das wirkliche Leben der Menschen in der Diktatur nie kennengelernt. Ein Glück, dass ich mich dieser Erfahrung aussetzen musste – das hat mich angestachelt. Die DDR war ein gutes Training. Ich wollte schöne Gedichte schreiben und treu sagen, was ich denke und fühle. Ich dachte: „Wenn sie mir dafür ein Stück Zuckerbrot geben, ess ich es gerne auf. Und wenn sie mich dafür schlagen, muss ich es eben aushalten!“ Taktisches Verhalten geht bei mir nicht, ich bin der Sohn von Emma Biermann. Und mein toter Vater von der Auschwitz-Wolke kam auch manchmal runtergesprungen, zottelte mich und sagte: „Kleiner Wolf, ich hab mein Leben aufs Spiel gesetzt, da kannst du wenigstens dein Wohlleben aufs Spiel setzen. Lass dich nicht einschüchtern!“ Klar gab es auch manche Momente, in denen ich zweifelte und große Angst hatte. 1968, als dem Prager Frühling der Garaus gemacht wurde… Wie sagte Brecht schon: „Den übertriebenen Hoffnungen folgt leicht die übertriebene Hoffnungslosigkeit.“
Ich hab natürlich den Ehrgeiz, etwas länger zu halten.– Wolf Biermann
Wenn Jüngere etwas von Ihnen lernen sollten – was wäre Ihnen da wichtig?
Die können am Beispiel meines Lebens und meiner Gedichte sehen, dass man sich einmischen soll in den Streit der Welt, dass man Angst haben darf, aber aufpassen muss, dass man nicht überwältigt wird von der Angst. Und das gelingt nur, wenn man tapfer ist im Streit. Und nicht aufgibt, bevor man überhaupt angefangen hat. Nicht zugrunde gehen an den Schlägen, die man leider nicht ausgeteilt hat.
Sie sprechen oft mit Heinrich Heine vom Freiheitskrieg der Menschheit und haben jahrzehntelang mitgekämpft, wo immer das ging. Denken Sie heut auch mal: Nö – jetzt sollen da mal Jüngere ran?
Nein! Es muss ja immer der das tun, der es kann. Es gibt junge Greise und gemütliche Rentner von Anfang an, also gibt es auch Einzelexemplare, die noch können. Oder wie Brecht das etwas eleganter sagt: „Kein Mensch hält ewig, einige halten etwas länger.“ Ich hab natürlich den Ehrgeiz, etwas länger zu halten, nicht aus egoistischen Gründen, sondern aus Zorn und Daffke, wie die Berliner sagen, weil ich doch so viele Kinder habe, die mich auch noch brauchen, und weil meine Tochter Mollie erst 15 ist, und weil meine Frau Pamela zu jung ist für eine Witwe. Also hab ich die komische Pflicht, zu funktionieren: „Alle Geräte arbeiten normal!“