Das Urteil, der Guido und Hartz IV

Rund 6,7 Millionen Arbeitslosengeld-II-Empfänger können auf mehr Geld hoffen. Die Regelsätze müssen neu berechnet werden, entschied das Bundesverfassungsgericht, weil sie ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ nicht sichern. Sozialverbände begrüßten das Urteil. FDP-Chef Westerwelle warnte dagegen vor „spätrömischer Dekadenz“ und klagte, „diejenigen, die arbeiten, werden mehr und mehr zu den Deppen der Nation“.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

Wie viel Geld Guido Westerwelle (FDP) im Monat zum Leben braucht, ist nicht bekannt. Klar ist: Er wird ein Vielfaches jener 359 Euro ausgeben, mit denen ein Hartz-IV-Empfänger derzeit zurechtkommen muss. Und zu befürchten ist: Ein dermaßen der Realität entrückter Politiker wird nicht mehr begreifen, was Armut in Deutschland vor allem bedeutet: Mangel an sinnvollen Aufgaben, Teilhabe und Chancen.

10_11HK205_Westerwelle_(05)-5Es ist traurig, dass es mehr als fünf Jahre und eines Machtworts des Bundesverfassungsgerichts gebraucht hat, um die Regierenden dazu zu bewegen, die staatlichen Hilfen der Wirklichkeit anzupassen. Dabei wusste jeder, den es interessierte, dass die Sätze jeder Erfahrung spotten. Oder kommen Sie mit 132,83 Euro im Monat für Lebensmittel aus und mit 14,36 Euro für Medikamente und Arztbesuche?
Das Urteil der Verfassungsrichter ist eindeutig: Diese Werte sind willkürlich und müssen anders, das heißt realistisch berechnet werden. Außerdem: Kinder von Langzeitarbeitslosen haben Anspruch auf mehr Unterstützung vom Staat – in Form von Geld oder in Form von kostenlosen Kita-Plätzen, Schulbüchern und Nachhilfe. Ebenso klar sagen die Verfassungshüter: Härtefälle brauchen mehr. Aids-Kranke oder Rollstuhlfahrer können mit dem knappen Regelsatz nicht auch noch Medikamente oder Haushaltshilfen bezahlen. Jenseits davon steht das Bundesarbeitsministerium nun vor einer interessanten Aufgabe: Wie will der Staat nachvollziehbar und verständlich das „menschenwürdige Existenzminimum“ definieren, das die Verfassungsrichter erstmals als Grundrecht festgeschrieben haben?
FDP-Lautsprecher Westerwelle hat mit seiner Rede vom Sozialismus und der „spätrömischen Dekadenz“ den Eindruck erweckt, es sei ein Vergnügen, von Hartz IV zu leben. Mutmaßlich hat er noch nie mit einem Langzeitarbeitslosen gesprochen. Sonst wüsste er, dass diese Menschen nicht in Milch oder Honig baden, sondern in der Regel einen sehr menschlichen Traum träumen: einer sinnvollen Arbeit nachzugehen, die sie unabhängig macht von der Hilfe des Staates. Oder schielt Westerwelle einfach nur auf die Wählerstimmen von den Stammtischen?
„Wer arbeitet, sollte mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet“: Das ist ein durchaus vertretbarer Gedanke (man könnte allerdings auch meinen: Wer arbeitet, hat ohnehin mehr – mehr Bestätigung etwa). Doch wird von den Predigern der Leistungsmoral verschwiegen, dass immer mehr Menschen in Deutschland immer weniger haben, weil ihre Arbeitgeber sie immer schlechter bezahlen. Rund zwei Millionen Menschen arbeiten inzwischen für weniger als fünf Euro die Stunde: Wachmänner und Zimmerfrauen, Friseurinnen und Postboten, um nur ein paar Berufe zu nennen. Und es werden jeden Tag mehr.
1996, so haben Wissenschaftler von der Uni Essen errechnet, waren 15 Prozent aller Arbeitnehmer Niedriglöhner. 2006 waren es 22,2 Prozent. Annähernd 1,4 Millionen Menschen beziehen ergänzend Hartz IV – und es werden jeden Tag mehr.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung steht nach dem Verfassungsgerichtsurteil vor einem Dilemma: Selbst wenn sie ein Berechnungsverfahren erfindet, nach dem die Regelsätze nicht angehoben werden müssen (was bemerkenswert wäre), kommt sie um eine neue Mindestlohn-Debatte nicht herum. Denn wer wie Westerwelle sagt, die Arbeitenden würden „mehr und mehr zu den Deppen der Nation“, der muss dafür sorgen, dass diese so viel verdienen, dass sie nicht mehr ergänzend Hartz IV beantragen müssen. Das bedeutet: Eine Lohnuntergrenze für alle muss her!
Noch wichtiger aber ist es, eine Antwort auf folgende Frage zu finden, von der Westerwelle und Co. gerne ablenken wollen: Wie verteilen wir die Arbeit so, dass sie die Gesellschaft nicht mehr spaltet in die „Guten“, die (noch) einen Job haben, und die „Schlechten“, die auf Stütze angewiesen sind, weil sie aussortiert wurden im immer gnadenloseren Wettbewerb? Oder anders: Was könnte folgen auf die Zeit der spätkapitalistischen Dekadenz?

Text: Ulrich Jonas

Ilustration: Patrick Farzar

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