Kinderbücher zum Thema Obdachlosigkeit sind rar. Autorin Kisten Boie und Illustratorin Jutta Bauer haben sich für Hinz&Kunzt an den Schreibtisch gesetzt
(aus Hinz&Kunzt 190/Dezember 2008)
„Früher war der Mann auch einmal ein Kind, das ist ja logisch. Jeder war einmal ein Kind.“ Klingt wie der Anfang eines Kinderbuchs? Ist es auch. Es erzählt die Geschichte eines Mannes, der ein geregeltes, angenehmes Leben führt, aber nach der Trennung von seiner Frau und dem Verlust seiner Arbeit auf der Straße landet. „Ein mittelschönes Leben“ packt ein schwieriges Thema an, vor dem sich viele Menschen fürchten – besonders Erwachsene, die oft wegsehen, wo Kinder genau hinschauen. Umso schöner, dass mit Kirsten Boie und Jutta Bauer ein so renommiertes und eingespieltes Gespann Feuer gefangen hat. Die beiden Hamburger Künstlerinnen haben viele Preise für ihre Kinder- und Jugendbücher bekommen und arbeiten schon seit vielen Jahren immer mal wieder zusammen.
„Ein mittelschönes Leben“ wendet sich an Kinder im Grundschulalter. Boie schafft es, ohne Pathos, durch eine klare Sprache fast ohne Adjektive, die typische Geschichte eines gescheiterten Lebens in eine lebendige, kindgerechte Erzählung zu gießen. Jutta Bauer hat die schönen und auch die mittelschönen Momente des namenlosen Helden in reduzierte Bilder gefasst. Auch sie mag es nicht „triefig und moralinsauer“.
Gesellschaftliche Veränderungen, Armut und Ungerechtigkeit beschäftigen die Künstlerinnen. Immer wieder suchen sie Kontakt zur Realität, möchten „raus aus dem Elfenbeinturm“. Beide sind sich ihrer privilegierten Stellung und ihrer Freiheit als Autorin und Zeichnerin sehr bewusst. Doch sie kennen auch magere Zeiten. Jutta Bauer jobbt zehn Jahre in einem Behindertenheim als Pflegehelferin. Zum Glück wird sie von der Frauenzeitschrift Brigitte entdeckt und bekommt eine regelmäßige Kolumne. Sie ist sieben Jahre lang die Expertin für freche und frauenbewegte Cartoons. Außerdem illustriert sie Kinderbücher und zeichnet Trickfilme. Bei der Arbeit für die Serie „Siebenstein“ des ZDF arbeitet sie in den Achtzigern erstmals mit Kirsten Boie zusammen. Mit ihr gemeinsam schafft sie im Laufe der Jahre mehrere Bände der erfolgreichen „Juli“-Reihe für den Beltz&Gelberg-Verlag.
Kirsten Boie kommt eher notgedrungen zum Schreiben. Sie ist zunächst Lehrerin für Englisch und Deutsch. Als sie 1983 das erste von zwei Kindern adoptiert, zwingt das Jugendamt sie dazu, ihren Beruf aufzugeben. Sie beginnt zu schreiben. „Das konnte ich nachts machen, und für Außenstehende war es zunächst nur ein Hobby“, erzählt sie. 1985 veröffentlicht sie das erste von mittlerweile mehr als 60 Kinderbüchern. „Eigentlich müsste ich dem Jugendamt dankbar sein“, sagt sie mit einem leicht ironischen Lächeln.
Der Mann im Buch hat nicht so viel Glück. „Im Winter wohnt er nachts vor dem Kaufhaus, da ist es im Eingang nicht mehr ganz so kalt. Am Tag sitzt er auf einer Pappe und hält die Hand auf. Manche Leute geben ihm Geld.“ Die ganze Zeit hofft man heimlich auf ein Happy End. Der Mann hofft nur, dass seine Kinder nicht zufällig vorbeikommen und ihn dort sitzen sehen. „Aber wenn sie doch irgendwann mal kommen, ist das vielleicht auch nicht so schlimm, denkt der Mann. Bestimmt erkennen sie ihren Papa gar nicht.“ Nicht mal ein mittelschönes Ende. Kirsten Boie und die Realität sind leider gnadenlos.
„Wir haben das Buch gemacht, weil wir uns wünschen, dass viele Kinder sehen, wie leicht Menschen manchmal nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Zuhause verlieren können; und damit sie diejenigen, die auf der Straße leben müssen, mit mehr Respekt angucken. Das tun viele Kinder aber sowieso. Da sind sie vernünftiger als viele Erwachsene.“
Text: Sybille Arendt
Foto: Mauricio Bustamante