Der Schnaps war Ickes bester Freund. Bis er Susi kennenlernte. Eine Geschichte, die fast zu schön und trotzdem wahr ist
(aus Hinz&Kunzt 189/November2008)
Bei manchen Menschen würde man glatt drauf wetten, dass sie nie nie mehr aus dem Dreck kommen. Icke war so ein Mensch. Bis er Hinz&Kunzt und Susi kennenlernte. Susi (Name geändert) bemerkt Icke am 6. Dezember 1993 zum ersten Mal. Der Obdachlose mit dem Berliner Akzent steht an seinem Verkaufsplatz am Berliner (!) Tor mit Nikolausmütze auf dem Kopf, nüchtern und verkauft gut gelaunt das Straßenmagazin. Der dunkelhaarige Mann mit den netten Augen fällt ihr auf, nur so.
Icke ist einer der allerersten Hinz&Kunzt-Verkäufer. Alle mögen ihn. Aber dass er gemocht wird, dass er Erfolg hat als Verkäufer, dass er wichtig ist, das bekommt ihm nicht. „Dass es mir mies ging, das kannte ich, damit kam ich klar“, sagt er heute. „Aber dass es mir gut ging, damit konnte ich gar nicht umgehen!“ So baut Icke nach seinem Senkrechtstart vom Schwerstalkoholiker zum Sunnyboy einen richtig derben Rückfall.
Ein paar Wochen später sieht Susi ihn wieder. Er macht Platte auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, ist sturzbetrunken. Susi denkt bestürzt: „Was ist denn jetzt los mit ihm?“
Icke sitzt auf seiner Decke, völlig heruntergekommen, in Tarnhose und einem Unterhemd, das vermutlich mal weiß gewesen war. Er „frühstückt“ gerade, flüssig natürlich. „Ick kippte mir morgens erst mal eine halbe Flasche Schnaps rein, so wie andere sich morgens die Zähne putzen“, sagt der Ostberliner, als wir uns 15 Jahre später, unweit seines alten Schlafzimmers in einem schicken Café treffen.
Susi bleibt bei dem Mann in der Tarnhose stehen. Die beiden kommen ins Gespräch, falls man das so nennen kann, wenn einer der Gesprächspartner sternhagelvoll ist. Aber die überzeugte Christin lässt sich nicht abschrecken. Er findet sie schön. „Das habe ich wahrgenommen mit meinen 3,8 Promille: ihre riesigen braunen Augen.“ Und sie sagt etwas, was ihn durch seinen Alkoholpanzer erreicht: Sie sagt, dass sie gläubig ist. „Ich bin auch gläubig“, hört er sich sagen. „Und das war ernst gemeint.“ Susi hakt nach: „Aber wenn man an Gott glaubt, dann muss man doch mit seiner Hilfe vom Alkohol loskommen.“
Leicht gesagt. Icke hat es schon oft versucht, immer vergeblich. „Wenn du abhängig bist, reizt dich die Sucht“, sagt der heute 51-Jährige. „Man hätte mich ohne einen Tropfen nach Sibirien schicken können, ich hätte immer was gefunden.“ Der Suff hatte ihn schon seit Jahren fest im Griff. In Ostberlin war er Heizer bei der Post. „Ich hab immer krank gemacht und gesoffen“, sagt er lakonisch. So lange, bis er seinen Job verlor – in der DDR eine echte Leistung. 1989 machte er rüber in den Westen.
Wenn er richtig gesoffen hatte, konnte er verdammt ungemütlich werden. Nicht zu uns, nur zu Leuten, die ihm irgendwie blöd kamen. Von denen gab’s allerdings eine ganze Menge. Dann setzte es schnell Prügel, im Knast war Icke deshalb auch schon gewesen. Icke durfte nicht verkaufen, wenn er betrunken war. Aber trotz seines wüsten Aussehens, seiner Lärmerei und seiner ständigen Alkoholexzesse mochten wir ihn. Was auf Gegenseitigkeit beruhte: „Ihr habt mich immer so genommen, wie ich bin und nie auf mich heruntergeguckt, auch wenn ich Scheiße gebaut habe“, sagt er.
Susi besucht Icke inzwischen jeden Tag. Icke freut sich drauf. Nicht nur aus religiösen Gründen. „Ich hatte richtig Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch“, sagt er heute. „So etwas kannte icke gar nicht.“ Bislang hatte er eher schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht. Nicht mal seine Mutter hat jemals zu ihm gestanden: „Die hat immer schon gesagt: Eines Tages landest du in der Gosse.“
Wegen Susi versucht er, das Leben etwas nüchterner anzugehen. Susi überzeugt ihn, mit ihr in die Kirche zu kommen. Und obwohl Icke eine Art schwarzes Schaf ist, wird er aufgenommen wie ein verlorener Sohn. Aber er ist noch schwer anfällig. Einmal schenkt ihm der Pastor 20 Mark, und er kann der Verlockung nicht widerstehen, „mir ordentlich was hinter die Binde zu kippen“.
Aber von einem Tag auf den anderen hat er den Alkohol satt. Er fragt Susi, ob er nicht mit zu ihr nach Hause kommen könne, um einen kalten Entzug zu machen. Susi bekommt jetzt doch etwas Angst. „So gut kannte ich ihn auch wieder nicht“, sagt sie.
Also macht er den Entzug allein, auf der Platte, mitten auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz. „Das ging ans Eingemachte“, sagt Icke. „Aber wenn es sich lohnt zu kämpfen, dann kann ich Einsatz zeigen.“ Das imponiert Susi.Jetzt ist sie es, die ihn zum Kaffee nach Hause einlädt. Als er an der Tür klingelt, wird ihr allerdings mulmig. „Ich wusste ja nicht, dass er gleich mit Sack und Pack kommt“, sagt sie lachend. „Wenn sie nur einen Ton gesagt hätte, wäre ich sofort gegangen“, sagt Icke. „Schließlich war die Wohnung ihr Territorium, wie der Gerhart-Hauptmann-Platz meins war.“ Das war am 1. April 1994 – „und das Kaffeetrinken hält bis heute an“, sagt Susi. Weil die beiden seitdem keinen Tag mehr getrennt waren. Obwohl sich natürlich einiges geändert hat. Genau ein Jahr später haben sie geheiratet. „Die Kirchengemeinde hat ganz schön Druck gemacht, und das war auch gut so“, sagt Icke. Außerdem war das gemeinsame Kind unterwegs. Über Hinz&Kunzt bekam Icke schnell eine ABM-Maßnahme, seit acht Jahren hat er eine feste Stelle.
Hinz&Kunzt ist ihm nach wie vor wichtig: „Der Anfang von allem war die Zeitung, wart ihr. Und das vergesse ich nicht.“ Wir sitzen immer noch im Café, und er wendet sich Susi zu, die die ganze Zeit mit am Tisch gesessen hat: „Wie ich früher mit Frauen in die Scheiße gegriffen habe, hab ich mit dir in den Honigtopf gegriffen. Du lässt mich leben, wie ich bin.“
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat er sich ganz schön verändert: „Man kann sich selbst erziehen, auch wenn man schon so alt ist wie ich“, sagt er. „Wenn ich Scheiße gebaut habe – was ja doch hin und wieder vorkommt – dann muss ich bereit sein, zwei Gänge zurückzuschalten und bestimmte Dinge eben nicht zu tun.“
Heute weiß er zweierlei: „Wenn Susi mich nicht von der Platte geholt hätte, dann wäre ich mit 38 Jahren schon in die Asche gegangen und hätte dem Leben winke, winke gesagt.“ Und: „Meine Mutter hat Recht gehabt: Ich bin in der Gosse gelandet. Aber sie hat nicht Recht behalten: Ich bin aus der Gosse wieder rausgekommen.“
Birgit Müller
ALS ALKOHOLKRANK gelten bundesweit 9,3 Millionen Menschen. Hamburg hätte demnach 88.000 Alkoholiker. Die Zahlen haben sich nach Angaben des Büros für Suchtprävention in den vergangenen 15 Jahren kaum verändert. 2007 wandten sich 3900 Menschen an eine der 33 Einrichtungen für Alkohol-abhängige in Hamburg. Zwei Drittel davon waren Männer, ein Drittel Frauen. Nach Ansicht der Guttempler werden Alkoholiker weniger stigmatisiert als früher. Allerdings müsse die Straßensozialarbeit verstärkt werden, um auch die zu erreichen, die sich nicht von selbst Hilfe holen. HAK