Claudia ist 41 Jahre alt und hat seit 14 Jahren keine eigene Wohnung.
(aus Hinz&Kunzt 189/November2008)
Die drei Geschwister stehen dicht gedrängt. Claudia ist die Älteste von ihnen, sie muss ihre Brüder beschützen. Dabei ist sie selbst noch nicht einmal sechs Jahre alt. Der kleine Carlos kann noch nicht laufen, Claudia hält seine kleinen Hände in ihren. Das Geschrei und das Gepolter versuchen die drei zu ignorieren. Es ist immer laut, wenn die Eltern streiten. Aber heute ist irgendetwas anders. Die Mutter schreit jetzt gar nicht mehr. Sie liegt am Boden, der Vater rittlings auf ihr, und er drückt auf ihren Hals. Dass die Mutter da so liegt, macht den Geschwistern Angst. Sie fangen an zu weinen. Als ihr Vater das Zimmer verlässt, laufen sie zu ihrer regungslosen Mutter, stoßen sie an und rufen sie.
Bis sie sich endlich wieder bewegt und röchelnd zum Telefon kriecht, vergeht für Claudia eine Ewigkeit – mindestens Stunden. Tatsächlich waren es wohl ein paar Minuten. Claudias Mutter schafft es, ihre Schwester anzurufen, sie fahren zum Arzt. Keine bleibenden Schäden – zumindest nicht an Mamas Hals.
Die Kindheitserinnerungen der 41-jährigen Claudia bestehen eigentlich nur aus solchen Szenen: Papa mit einem Gürtel, Papa mit Messer, Papa mit der flachen Hand. Ihre Mutter reibt die schillernd blauen Körperteile der kleinen Claudia mit Salbe ein und beschwört sie, niemandem davon zu erzählen, was zu Hause los ist. „Sonst musst du ins Heim.“
Die Worte hallen bis heute in Claudias Ohren wider. Sie hat nichts vergessen. Detailliert erzählt sie von damals: etwa von dem Tag, an dem die Lehrerin wollte, dass die Schüler ein Bild malen. Da war Claudia in der ersten Klasse. „Die Tische waren wie in einem Hufeisen gestellt. Wir haben Papier ausgelegt und sollten unsere Tuschkästen auspacken.“
Das Knistern der Zeitung, das Gedränge am Waschbecken, das aufgeregte Lärmen: Für andere Kinder ist daraus eine schöne Erinnerung geworden. Claudia hat keine Erfahrung mit schönen Erinnerungen. Claudia hat immer nur Angst. Jede noch so harmlose Situation ist für sie eine Bedrohung. Wenn Claudia einen Fehler macht, bestrafen die Erwachsenen sie. Panisch sucht sie einen Ausweg. „Ich hab dann gesehen, dass ich unter den Tischen durchkrabbeln und bis zur Tür kommen kann.“
Die Sechsjährige haut ab. Am selben Abend ruft die Lehrerin ihre Eltern an. Der Vater fackelt nicht lange… „Er hat nicht mal gefragt, warum ich weggelaufen bin“, sagt Claudia. Darüber ist sie bis heute enttäuscht. Sie versteht nicht, warum sie gequält wird und ihre Mutter das zulässt. „Sie war schon immer eine starke Frau. Sie hätte sich von ihm trennen können. Aber wenn es gegen uns Kinder ging, haben die immer zusammengehalten.“
Auch als Claudia 17 Jahre alt und schwanger ist. Nach einer Auseinandersetzung schmeißen die Eltern sie aus dem Haus. Sie darf sich im Garten ein Zelt aufstellen. Claudia wird zum ersten Mal obdachlos.
Als ihre Tochter Patricia ein Jahr alt ist, fängt Claudia an, mit Drogen zu experimentieren. „In meiner ersten eigenen Wohnung hab ich die ganze Zeit nur Party gemacht“, sagt sie. Sie zieht kurzfristig wieder zu ihren Eltern, fliegt raus, kommt bei Freunden unter und bekommt dann vom Sozialamt eine Wohnung für sich und ihr Kind gestellt. Bei Drogenexperimenten bleibt es nicht: Claudia ist mittlerweile schwer abhängig.
Als Patricia neun ist, verliert Claudia die Wohnung; sie hat Mietschulden. „Zum Glück war Pazzi gerade auf einer Klassenkur“, sagt Claudia. Drei Wochen ist die Kleine mit ihrer Schule an der Ostsee. In dieser Zeit schläft Claudia auf Parkdecks und am Hauptbahnhof. Sie rutscht endgültig in die Drogenszene ab. Wenn sie von dieser Zeit erzählt, sagt sie nicht mehr „ich“, sondern „man“: „Wenn man da draußen schläft, kommt man automatisch in die Szene. Man lernt dann automatisch die Leute da kennen.“
Als ihre Tochter zurückkommt, verbringen die beiden noch 14 Tage auf der Straße. Man schläft auf der Mönckebergstraße. Als es kälter wird, kriegt Claudia es irgendwie geregelt, dass Patricia bei Freunden übernachten kann. Für den Winter 1994 bekommen Mutter und Tochter einen Platz im Winternotprogramm auf dem Wohnschiff Bibby Altona.
Jahrelang zieht Claudia mit ihrer Tochter von einer Übergangswohnung in die nächste. Bis Patricia schwanger wird und ein eigenes Leben beginnen will. Sie ist gerade 16 Jahre alt, als sie auszieht. Für Claudia kein großer Bruch: Nach wie vor bewegt sie sich in der Drogenszene. Sie wird straffällig. „Wenn man drei Tage drauf ist, schätzt man Situationen manchmal falsch ein.“
Und heute? Claudia ist krank. Sie nimmt täglich starke Medikamente: Opiate und Psychopharmaka. Um die Drogenszene am Hauptbahnhof macht sie mittlerweile einen großen Bogen: „Da trifft man immer jemanden, den man kennt – und schon steckt man wieder drin.“ Das Geld, das sie mit dem Hinz&Kunzt-Verkauf verdient, will sie nicht für Drogen ausgeben. Es gibt jetzt Wichtigeres: ihre Enkelin Michelle. Sie soll es gut haben.
Zurzeit wohnt Claudia mit in der Zwei -Zimmer-Wohnung ihrer Tochter. In der Drei-Generationen-WG gibt es viel Streit zwischen den Großen – auch Handgreiflichkeiten. Claudia und die kleine Michelle sind Verbündete. Vor ihrer Tochter fürchtet Claudia sich: „In ihr sehe ich meine Mutter“, sagt sie. Sie ahnt Schlimmes. Dann will sie für Michelle da sein. Weil sie selbst damals niemanden hatte, zu dem sie gehen konnte. Claudia versucht, eine eigene Wohnung zu finden, und dann soll Michelle den Schlüssel bekommen. Sie impft ihrer Enkelin ein: „Wenn etwas ist, dann lauf nicht weg, sondern komm zur Oma.“
Beatrice Blank
schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe für 2006 (neuere Zahlen lagen bei Redaktionsschluss nicht vor). Vor 15 Jahren waren es 15 bis 20 Prozent. Damals wie heute: Die Dunkelziffer ist hoch.
RUND 254.000 MENSCHEN IN DEUTSCHLAND SIND WOHNUNGSLOS, EIN VIERTEL DAVON SIND FRAUEN. Frauen sind oft verdeckt obdachlos. Nach dem Verlust der Wohnung kommen sie bei Bekannten unter. „Viele gehen auch Beziehungen mit Männern ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben. ,Wohnprostitution‘ ist das Fachwort dafür“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler. Beim Straßenmagazin sind 64 von 400 aktiven Verkäufern weiblich. Frauen werden meist durch das Scheitern einer Partnerschaft oder Gewalterfahrungen obdachlos, so Maren Meier von „Kemenate Frauen Wohnen“. Der Hamburger Verein bietet Frauen ohne Zuhause seit 1992 eine Anlaufstelle. Von Anfang an waren die Besucherinnenzahlen hoch, bis heute haben sie sich noch gesteigert: In den ersten zwei Jahren kamen 256 unterschiedliche Frauen, heute sind es jedes Jahr etwa 200, davon 70 bis 100 neue Gesichter. Im Jahr 2007 waren es insgesamt 7212 Besuche und damit 30 an jedem Öffnungstag. Die „Kemenate“ plant ein Containerprojekt. Dort sollen sechs bis acht Frauen für einen begrenzten Zeitraum wohnen. Bisher gibt es in Hamburg kein ganzjähriges Wohnprogramm exklusiv für Frauen. BEB