„Der Bunker hat mir das Leben gerettet“

Viele würden das Ungetüm von Wilhelmsburg lieber heute als morgen dem Erdboden gleichmachen. Eine nicht: Rose Radtke

(aus Hinz&Kunzt 186/August 2008)

Zum Ende hin darf sie mit Schuhen ins Bett. Deckt sich zu, versucht ein wenig Schlaf zu finden, bis zum nächsten Voralarm. Ertönt der, springt sie auf, ist schneller drüben beim Hochbunker als ihre Mutter mit den zwei Geschwistern. Immer mit dabei ist der kleine Rucksack mit den wichtigsten Papieren, mit ein wenig Wäsche. Auch im Bunker weiß sie genau, wo sie hin muss: Jede Familie hat ihren festen Platz auf einer der langen Holzbänke in einem der großen, selbstverständlich fensterlosen Säle. Als der Krieg endlich aus ist, ist Rose Radtke gerade mal fünf Jahre alt.

Es gibt Leute, die finden den Hochbunker in Wilhelmsburg hässlich, ein Monstrum, würden ihn am liebsten abreißen lassen. Rose Radtke kann das nicht verstehen: „Der Bunker hat mir das Leben gerettet, so seh ich das!“ Und das mehr als einmal.

Sie muss nur hinten die Terrassentür in ihrem Haus öffnen, sich ein wenig vorbeugen, dann sieht sie ihn: eine graue Fläche hinter ausladenden Bäumen, in denen sich gerne Krähen streiten. So wie sie, wenn die Angriffe vorüber waren, umgekehrt vom Bunker aus schaute, ob das Haus noch stand, ob das Dach noch heil war, ob vielleicht was brannte.

In diesem Haus ist sie aufgewachsen, in diesem Haus hat sie als Elfjährige ihren späteren Mann und dessen Eltern kennengelernt, als seine Familie für ein paar Jahre bei ihnen einquartiert wurde; in dieses Haus ist sie nach dem Tod ihres Mannes zurückgekehrt, in diesem Haus lebt sie nun alleine.

Sie hat Wilhelmsburg nie verlassen: Sie hat geheiratet, ist einmal um die Ecke gezogen, in eine der nächsten Straßen. Sie ist nicht nur eine echte Wilhelmsburgerin, sondern eine überzeugte. Neulich musste ihr mal wieder einer erzählen, was für ein Schandfleck dieser Stadtteil sei und dass man dort unmöglich wohnen könne. Sie wollte nur eines wissen: ob er schon mal da gewesen sei? War er nicht. „Zum Glück bin ich ruhig geblieben. Mein Mann hat immer gesagt: ,Werd bloß nicht polemisch!‘“ Sie zuckt mit den Achseln. Manchmal muss auch das sein.

Überhaupt ist sie nicht auf den Mund gefallen, das hat sie von zu Hause. Von ihrem sozialdemokratischen Großvater womöglich, der 1920 nach Arbeitskämpfen im Hamburger Hafen ein paar Monate im Gefängnis saß. Auf jeden Fall von ihrer Mutter, die sich weigerte, die ältere Tochter in den Bund Deutscher Mädel (BDM) zu schicken. Als Kanonenfutter gäbe sie ihre Kinder nicht her, hatte sie verlauten lassen, woraufhin zwei Kerle in langen Ledermänteln an der Tür klopften, es bei einer Verwarnung beließen und drohten, beim nächsten Mal würde es nicht so glimpflich enden. „Meine Mutter“, sagt Frau Radtke, „konnte sich so was von aufregen.“

Dazu hatte sie auch allen Grund: „Die ganzen Häuser ringsum, das sind praktisch alles Nazis gewesen.“ Deren Kinder während der schweren Luftangriffe auf Wilhelmsburg und den Hafen aufs Land verschickt sind, während Familien wie die Radtkes immer wieder um ihr Leben laufen. Die im Bunker ihr Gepäck in einem separaten Raum abstellen können und sich nicht jedes Mal damit abschleppen müssen, wenn schon die Brandbomben vom Himmel fallen und es auf jede Minute ankommt.

Nach dem Krieg? „Es gab hier Leute, da hat meine Mutter gesagt: ‚Die brauchst du nicht zu grüßen!‘ Dabei hat meine Mutter viel Wert auf Höflichkeit gelegt. Wir haben ja noch ein Knickschen gemacht, wenn wir ‚guten Tag‘ gesagt haben.“

Entsprechend grußlos stromert die kleine Rose durch die Siedlung, findet Kinder, mit denen sie in den Trümmern spielt, auch drüben beim Bunker, in dem die Briten, die in Wilhelmsburg eingerückt sind, ihre Munition lagern.

Sie ist mittenmang. Ist klein, wendig, kann gut klettern und hat nun – nichts fällt mehr vom Himmel – vor wenig Angst. Die Kinder machen sich einen Spaß daraus, Patronen aus dem Bunker zu holen, ein Feuerchen zu machen – und es knallen zu lassen: „Wenn ich gesehen hab, die großen Jungs laufen, bin ich natürlich noch schneller gelaufen.“ Bis ihr Bruder sich einen Granatsplitter einfängt. Zu Hause sagt er nichts: „Mutti hätte wer weiß was gemacht.“ Nur dass sich die Wunde entzündet, zu einer Blutvergiftung anwächst, er den Arm bald nicht mehr bewegen kann – und nun doch alles erzählen muss: „Da war für uns Feierabend – da durften wir nicht mehr rüber.“

Auch dem Bunker selbst soll es an den Kragen gehen. Rose Radtke ist da fast sieben Jahre alt, steht mit den Eltern und den Nachbarn mitten auf der Wilhelmsburger Reichsstraße, die heute als Autobahn den Stadtteil zerschneidet. Das Haus, die Siedlung müssen sie für einen Tag verlassen, die Briten wollen den Bunker schleifen, stopfen ihn voll mit Sprengstoff: „Die Engländer standen da mit ihren Stativen und haben gedreht, es hat auf einmal einen fürchterlichen Knall gegeben, der Bunker hat so hin und her gewackelt – doch wie die Rauchwolke wieder weg war, hatte er sich wieder hingesetzt gehabt. Wir haben vielleicht gejubelt: Der Bunker steht noch! Und die Engländer haben sich geärgert.“

Seitdem gab es viele Pläne, was aus dem Bunker werden könnte, dessen Inneres damals völlig zerstört wurde. Die 68-Jährige kennt sie alle: Wohnhäuser sollten an ihn angrenzen, ein Wanderweg sollte bis aufs Dach führen; auch eine Seilbahn nach oben ist kurz im Gespräch. Zuletzt wurde damit begonnen, die Außenwände mittels Netzen und Rankpflanzen zu begrünen. Aktuell steht die Idee im Raum, ihn mit Solaranlagen zu bestücken und womöglich als Europas größten Sonnenkollektor zu nutzen. Frau Radtke wäre das sehr recht: „Hauptsache, das ist nicht wieder so eine Idee, aus der dann doch nichts wird.“ Sie muss noch einmal sagen, dass sie der Bunker wirklich nicht stört, dass er einfach dazugehört, so wie damals, als sie so schnell sie konnte zum Bunker gelaufen ist: „Meine Mutter hat wohl manchmal anfangs Angst gehabt und gerufen: ,Wo ist die Lütt?‘ Später hat sie sich keine Sorgen mehr gemacht, sie wusste ja, wo die Lütt war.“

Frank Keil

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