650 Euro Abfindung bekommt Recep Günaydin nach einem Vergleich vor dem Arbeitsgericht. Dumpinglöhne sind aber weiter möglich
(aus Hinz&Kunzt 186/August 2008)
298,41 Euro Brutto-Monatslohn: So wenig bekam der Flaschensortierer Recep Günaydin im April für seinen Vollzeitjob (siehe H&K 185). Vor dem Hamburger Arbeitsgericht gab es nun einen Vergleich: 650 Euro werden dem Familienvater als Abfindung nachgezahlt. Erschreckend: Nach diesem Urteil kann man in Hamburg weiterhin Dumpinglöhne zahlen.
Der Beklagte gibt sich empört: „Es stehen zehn Existenzen auf dem Spiel!“, ruft Horst Jess, Geschäftsführer der Hanse Privat Logistic Ltd., in den Saal 119 des Arbeitsgerichts Hamburg. „Darauf hat Herr Günaydin keine Rücksicht genommen!“ Jess, ein groß gewachsener, kräftiger Mann mit selbstsicherem Grinsen, muss an diesem Mittwoch im Juli erklären, warum er seinen ehemaligen Angestellten Recep Günaydin im April mit einem Lohn von 1,70 Euro brutto die Stunde abgespeist hat.
Als der Hinz&Kunzt-Bericht Anfang Juli erscheint, schrillen bei Subunternehmer Jess und seinem Auftraggeber, dem Getränkegroßhändler Göttsche, die Telefone. Der Bild-Zeitung sagt Jess: „Wir haben selbst nichts! Auf dem Markt sind die Preise so niedrig, dass wir kaum unsere Büromiete zahlen können.“ Die Firma Göttsche äußert sich dazu nicht. Sie stellt in einer Pressemitteilung lediglich klar, die Sortierung der Flaschen werde nicht von eigenen Mitarbeitern, sondern „durch damit beauftragte Werkunternehmer durchgeführt“. Jess habe im Übrigen versichert, „dass er den Stundenlohn seiner Mitarbeiter auf das übliche Niveau angehoben habe“.
Ein „neues Geschäftsfeld“ sei der Auftrag für die Firma gewesen, erklärt Jess’ Anwalt Holger Delventhal vor Gericht. Der Beklagte habe deshalb „anfangs noch keine klare Vorstellung gehabt“. Sechs Paletten mit jeweils 40 Getränkekästen hätte Günaydin laut einer Anlage zum Arbeitsvertrag sortieren müssen, um auf einen Stundenlohn von 7,50 Euro zu kommen – macht 80 Flaschen in der Minute. Unmöglich, sagt heute selbst Subunternehmer Jess. Er hat es nach eigenem Bekunden ausprobiert und Konsequenzen gezogen. „Der Stundenlohn liegt jetzt bei 6,30 Euro für alle“, sagt der Geschäftsmann. Sein Anwalt gibt im besten Unschulds-Deutsch zu Protokoll: „Für den Kläger kam eine Anpassung nicht mehr in Frage.“ Erst nachdem Recep Günaydin einen Rechtsanwalt eingeschaltet hatte, berechnete ihm die Hanse Privat Logistic für Mai einen Stundenlohn von 6,30 Euro – und kündigte das Arbeitsverhältnis.
Arbeitsrichter Ilbert Albers, das wird schnell klar, will noch am Verhandlungstag die Akte schließen. Die Abgründe der Arbeitswelt scheinen den Mann mit dem silbergrauen Vollbart vor allem zu ermüden. Könnte hier Lohnwucher vorliegen? Der Richter denkt offenbar nicht mal dran. Stattdessen fragt er den Anwalt des Flaschensortierers, Rainer Willhoeft: „Sie möchten welchen Stundenlohn?“ – „7,50 Euro. So wie es bei der Vermittlung des Jobs angegeben wurde.“ – „Im Arbeitsvertrag stehen die nicht. Ich brauche eine Anspruchsgrundlage. Die ortsübliche Vergütung liegt sicher darunter!“ Woher Richter Albers das weiß, bleibt sein Geheimnis: Beim Getränkegroßhändler Trinks angestellte Leergutsortierer zum Beispiel verdienen laut Betriebsrat gut neun Euro die Stunde.
Auch den geforderten Kündigungsschutz will der Richter nicht anerkennen: Schließlich sei Günaydin selbst auf das Gelände der Firma Göttsche gelaufen und habe dort verkündet, er werde nicht mehr zur Arbeit erscheinen.
„Können wir in irgendeiner Form über Geld reden?“, fragt der Richter. Zehn Minuten später ist der Vergleich geschlossen: 650 Euro Abfindung überweist die Hanse Privat Logistic an Recep Günaydin. Den Großteil davon wird die Arge bekommen, auf deren Unterstützung der Familienvater nun wieder angewiesen ist.
Ulrich Jonas
Vor dem Arbeitsgericht hatte Flaschensortierer Recep Günaydin (Foto) nicht viel Glück. Aber unverhofft bekam er 350 Euro: „Es macht mich wütend, wenn ein Mensch nur 1,70 Euro die Stunde bekommt“, sagt Uwe Lübbermann. Der 32-Jährige von der Alternativ-Firma Premium Cola zögerte nicht lange, als er den Hinz&Kunzt-Bericht las. Der Betrag ist für Lübbermann eine moralische Wiedergutmachung, mit der er ein Zeichen setzen will: „Schließlich hat Recep Günaydin auch einige unserer Flaschen auf dem Gelände von Göttsche sortiert!“