Bettler in Hamburg :
Die Pendler von Namaesti

Früher hat Ion (Im Bild mit Enkel Beni und Ehefrau Nina) in einer Fabrik gearbeitet, jetzt fährt er regelmäßig nach Hamburg, um zu betteln. Foto: Andrei Schwartz

Dokumentarfilmer Andrei Schwartz besuchte zusammen mit Mitarbeiter des Vereins Hoffnungsorte und der Sozialbehörde Hamburger Bettler in ihrem rumänischen Dorf.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Andrei Schwartz versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Er steht in dem kleinen Innenhof in einem kleinen Romaviertel in einem kleinen Dorf namens Namaesti in Rumänien – und drei Jugendliche zerren an ihm.

„Ich hatte keine Ahnung, was die von mir wollten“, sagt der Dokumentarfilmer, als er auf seinem Barmbeker Balkon die Geschichte erzählt. Er wusste nur: Einer der Jungs war Salvin, zu dessen 16. Geburtstag er eingeladen war. Von dessen Vater Florin. Und der wiederum bettelt auf Hamburgs Straßen, wo Schwartz ihn kennengelernt hat. Als er schließlich versteht, was die 17 Jungen sagen, ist Schwartz perplex: „Bitte helfen Sie uns, Don Andrei“, sagt Salvin auch im Namen seiner Freunde. „Wir wollen später nicht so leben müssen wie unsere Eltern.“

Am nächsten Morgen ist der Besucher aus Hamburg in anderer Mission unterwegs: Mithilfe eines Bettlakens bauen sie in einem Hof ein kleines Fotostudio auf und machen Bewerbungsfotos und helfen bei den Lebensläufen.

Womöglich haben die drei Jungs aus Namaesti wirklich eine Chance, mal „rauszukommen“. Sie gehen schließlich aufs Wirtschaftsgymnasium in einem Nachbarstädtchen. Auch dafür legen sich ihre Eltern krumm. Die Kinder und vor allem die Eltern – das sind genau die Menschen, um die sich der neue Film von Andrei Schwartz drehen soll: Roma, die noch weniger Chancen auf Arbeit haben als die anderen Rumänen. Und die nur dann vorwärtskommen, wenn sie ins Ausland gehen. Zur Not zum Betteln.

Dabei haben früher viele gearbeitet. „In der Nähe war eine Fabrik für Autos mit Vierradantrieb, ein Zementkombinat, eine Möbelfabrik“, sagt Schwartz. „Da fuhren morgens Busse ins Dorf, um die Arbeiter abzuholen. Das alles ist nach der Wende peu à peu verschwunden.“ Das traf alle im Dorf, die Rumänen wie die Roma. Aber nicht gleichermaßen. „Vorne wohnen die Rumänen. Sie haben noch etwas Boden und Ackerland“, sagt der Filmemacher, der selbst aus Rumänien stammt. „Hinten, wo sich das Tal verengt, ist das Romaviertel. Die haben null Boden.“

Früher konnten die Menschen wenigstens noch Pilze in den Wäldern sammeln. Aber auch die Wälder wurden verkauft. „Und die neuen Eigentümer verbieten das Pilzesammeln; weil sie glauben, dass so das Wild verscheucht wird.“ Inzwischen gibt es in der Umgebung keine Arbeit mehr. „Null!“, sagt Schwartz mit Nachdruck.

Wer kann, der geht. „Nach Europa“ heißt das Zauberwort, als würde Rumänien nicht dazugehören. Und Europa heißt für einige eben Hamburg. Eine Welt, die sie kaum verstehen. „Viele sind Analphabeten und verstehen nicht mal die Straßenschilder, geschweige denn die Briefe und Verfügungen.“ Aber immerhin kann man mit Betteln 15 Euro pro Tag machen, vielleicht sogar mehr. „Das kann man wenigstens durch etwas teilen, Null kann man nicht mal teilen!“ Schwarzer Humor statt Stolz ist angesagt.

„Natürlich fühlen sich die Männer gedemütigt“, sagt Schwartz. In diesem Fall von den Hamburgern, die zwar liberal sind, die Bettler aber auf einen Problemfall reduzieren und sie gerne durch die Hintertür raushaben wollen.

Das ist eben der Preis dafür, dass es ihnen besser geht als denen, die im Dorf zurückbleiben und gar nichts haben. Einer der Männer, die in Hamburg betteln, hat sich sogar ein Bad eingebaut. Und solange sie Geld haben, geben sie den Bettlern etwas, die es natürlich auch in Namaesti gibt. Wenn das Geld verbraucht ist, müssen sie wieder los. „Als Pendler zwischen zwei Welten“, sagt Schwartz.

Ion schafft diesen Spagat nur mit Humor. Neulich, erzählt Schwartz, sei ein Rollstuhlfahrer immer wieder vor Ions Hamburger Bettelplatz auf und ab gefahren. Ion wusste nicht so recht, was das werden würde. „Dann parkte der Rollstuhlfahrer direkt neben ihm – und seufzte laut.“ Der Rollstuhlfahrer spricht nur Deutsch, Ion nur Rumänisch. Also habe auch Ion laut geseufzt und den Rollstuhlfahrer vielsagend angelächelt. „Zwei Menschen, der eine durch physische Bedingungen an den Rollstuhl, der andere durch soziale Bedingungen ans Betteln gebunden. Beide wussten, warum sie seufzten – und mussten plötzlich laut lachen.“

Meistens sind Schwartz’ Protagonisten Menschen, die gesellschaftlich am Rande stehen. Durch sie kann er seine eigene Welt besser verstehen, sagt der 61-Jährige. „Sie sind dann wie das Kontrastmittel, durch das eine Röntgenaufnahme erst lesbar wird.“

Aber vor allem müssen ihm die Menschen sympathisch sein. Und an den Orten muss er sich „zu Hause“ fühlen. Das verwundert dann schon, schließlich hat er auch Filme im Knast gemacht. Gerade da, beteuert er, habe er sich ein Stück weit heimisch gefühlt. „Vielleicht weil ein Teil meiner Familie jüdisch ist und im KZ umgebracht wurde“, sagt er. „Das Problem des Eingesperrt- und Ausgeliefertseins hat mich deshalb immer beschäftigt. Darum war der Knast für mich kein so ein fremdes Territorium.“

Fremdes Territorium gibt es trotz aller Sympathie zwischen ihm und seinen Protagonisten. „Ihr Leben funktioniert nach anderen Spielregeln, da kann man nur unsere eigenen hinterfragen“, sagt Schwartz. „Die Roma improvisieren ihr ganzes Leben. So etwas wird bei uns ja immer mehr ausgeschaltet.“

Immer bleibe auch ein Stück Misstrauen. Weil sie eben vieles nicht verstehen an unserer durchorganisierten Welt. Weil sich auch meist nur Menschen für sie interessieren, die „Hintergedanken“ haben: Polizei, Behörden, dubiose Arbeitgeber …

Nicht nur deshalb ist für ihn klar, dass er seinen Protagonisten ein Honorar bezahlt, wenn er dreht. „Alles andere wäre Ausbeutung – einmal mehr.“ Man mache sich etwas vor, wenn man glaube, mit einem Film verändert man die Welt zu ihren Gunsten. „Aber ein Film legt Zeugnis von diesen Menschen ab, und sie bekommen das Gefühl, sie sind etwas wert.“ Und er versucht auch zu akzeptieren, dass seine Protagonisten das Honorar unter Umständen nicht so nachhaltig anlegen, wie „wir“ das für sinnvoll halten.

„Auf der Kippe“ hieß sein erster Film über Roma, die auf einer Müllkippe leben. Immer wieder waren sie von Vertreibung bedroht. Damals hatte die Filmcrew vorgeschlagen, ein Grundstück zu kaufen, damit die Gemeinschaft nicht mehr vertrieben werden könnte. Ärzte ohne Grenzen hätte auch mitgemacht. Allerdings hätte der Geldtransfer ein paar Wochen gedauert. Und die Roma-Gemeinschaft war zu misstrauisch, um zu warten. Sie haben das Geld nach einem ausgeklügelten Verteilungsschlüssel – Anzahl der Baracken und der Kinder – ausgezahlt, erzählt Schwartz. „Und dann haben sie das Geld genommen und es an einem Abend verfeiert, aber restlos.“

Er und seine Crew waren damals „wahnsinnig traurig, dass wir nicht was Gutes machen konnten. Irgendwann habe ich aber begriffen, dass die Alltagserfahrungen dieser Menschen ähnlich dem Überlebenskampf im Dschungel sein müssten, da gibt es kein morgen. Entweder du isst heute oder niemals. Es gibt nur das, was man heute kriegen kann, alles andere sind Illusionen … Andererseits liegt es doch größtenteils an uns, wenn sie keine anderen Erfahrungen machen.“

Die Armutspendler von Namaesti: Reisebericht mit Andrei Schwartz sowie Mitarbeitern des Vereins Hoffnungsorte und der Sozialbehörde am 7.9., 18.30 Uhr im Herz As, Norderstr. 50

 

Autor:in
Birgit Müller
Birgit Müller
Birgit Müller hat 1993 Hinz&Kunzt mitgegründet. Seit 1995 ist sie Chefredakteurin.

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