Leben, ohne Müll zu produzieren – Vanessa Riechmann und Erdmuthe Kriener schaffen das. Fast zumindest. Ihr monatlicher Abfall passt in ein Marmeladenglas. Wir wollten wissen, warum die beiden Hamburgerinnen müllfrei leben wollen und wie das funktioniert.
Vanessa Riechmann kann Menschen verstehen, die sie für eine Spinnerin halten. „Manchmal denke ich auch, ich spinne“, sagt die 35-Jährige. Dabei übt sie gar kein schräges Hobby aus. Sie verrenkt sich auch nicht für eine neue, unaussprechliche Trendsportart. Eigentlich führen Vanessa Riechmann und ihre Freundin und Kollegin Erdmuthe Kriener ein stinknormales Leben. Bis auf die Tatsache, dass sie so gut wie keinen Müll produzieren.
Zero Waste, also kein Abfall, heißt die Bewegung. Sie kommt, wie soll es anders sein, aus Amerika. 2006 beginnt Bea Johnson (siehe Interview hier) damit, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. Der Auslöser: Ein Umzug von einem großen in ein sehr viel kleineres Haus. Zunächst lagert die vierköpfige Familie 80 Prozent ihres Hab und Guts zwischen. Bis sie merken: Wir kommen auch ganz gut ohne all die Dinge aus. Bea Johnson wird nachdenklich: Was brauchen wir wirklich zum Leben? Können wir unseren Müll radikal reduzieren? Ihre eindeutige Antwort: Und ob!
Vanessa Riechmann sieht eines Abends eine Dokumentation auf 3sat. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Die Doku handelt von einer Familie aus Hamburg, die für vier Wochen probiert, ohne Plastik zu leben. Nachdem sie 50 Kisten voll mit Kinderspielzeug, Küchenutensilien und anderem Kunstoffkram aus dem Haus geräumt haben, sieht man die Familie leicht überfordert am Küchentisch sitzen. Ob Käse, Wurst, Kosmetik oder CDs – fast alles ist in Plastik verpackt. Kann man ihm überhaupt entkommen? Begleitet wird der Test von einer Toxikologin des Umweltbundesamtes. Sie untersucht Urin und Blut der Familie auf Schadstoffe.
Denn in Plastik sind Stoffe wie Phthalate (Weichmacher) und Bisphenol A (wird zur Kunststoffherstellung genutzt) enthalten, denen eine gesund-heitsgefährdende Wirkung nachgesagt wird. Neue Studien deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen erhöhten Bisphenol-A-Werten und Diabetes sowie Störungen der Fruchtbarkeit bei Männern. In Babyfläschchen darf der Stoff EU-weit schon seit 2011 nicht mehr verwendet werden. Das Vorher-Nachher-Ergebnis bei der Testfamilie ist eindeutig: Während anfangs noch deutliche Spuren von Phthalaten und Bisphenol A nachzuweisen sind, nehmen diese in der plastikfreien Zeit um bis zu 80 Prozent ab. Dabei war die Familie überzeugt, schon ziemlich gesund zu leben.
„Da bei dieser Familie die Werte so stark sanken, war mir klar: Ich will etwas ändern“, sagt Vanessa Riechmann. Der Zeitpunkt passte: Riechmann und Kriener, die sich 2011 als Musicaldarstellerinnen bei „Sister Act“ kennenlernten, haben gerade zwei Monate Pause zwischen Engagements. Sie machen zusammen Sport („man muss ja fit bleiben“), setzen sich danach ins Café und quatschen. Vor allem übers Kochen und Essen. „Wir haben uns da so hochgeschaukelt“, sagt Erdmuthe Kriener. Während Freundin Vanessa sehr auf ihre Gesundheit achtet, treibt die 31-Jährige etwas anderes an: „Ich will einfach nicht, dass der ganze Müll in den Weltmeeren landet.“
„Ich will nicht, dass der Müll in den Weltmeeren landet.“
Anfang des Jahres wurde eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass im Jahr 2050 im Meer schon mehr Plastik schwimmen könnte als Fische. Jährlich landen rund neun Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen. Dabei benötigt eine Plastiktüte rund 450 Jahre, bis sie zersetzt ist. Meeresvögel verwechseln den Müll oftmals mit Nahrung: Bis zu 100.000 Tiere verenden daran jährlich, so der NABU, auch Delfine und Schildkröten verheddern sich in den Resten. Oder der Plastikmüll landet in Form von zersetzten Mikroplastikkügelchen in den Mägen der Fische und so am Ende auch wieder bei uns auf dem Tisch.
Erdmuthe Kriener verdankt nicht nur ihren ungewöhnlichen Vornamen ihren Eltern („man kann sie schon als Hippies bezeichnen“), auch ihre Einstellung: Die Milch holten sie früher immer direkt vom Bauernhof. Einkaufen kennt sie sowieso nur mit Jutebeutel oder Korb. „Ich habe das nie verstanden, wieso ich da jedes Mal eine neue Plastiktüte mitnehmen sollte“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Darüber, dass mit REWE erstmals eine große Supermarktkette freiwillig auf Plastiktüten verzichtet, freut sie sich. Das bedeutet ein Minus von 140 Millionen Plastiktüten im Jahr. Insgesamt werden in Deutschland allerdings circa sechs Milliarden Tüten ausgegeben.
Die Tüten waren nicht das Problem, als Erdmuthe Kriener und Vanessa Riechmann im Sommer 2015 beschlossen, auf Plastik zu verzichten und so wenig Müll wie möglich zu produzieren. Das Tomatenmark schon. „Das habe ich am Anfang sehr vermisst“, sagt Erdmuthe Kriener, „das gibt es ja standardmäßig in der Tube oder in der Dose.“ Irgendwann fragte ihr Freund im Biomarkt einfach mal nach. „Und siehe da: Auch Tomatenmark gibt es im Glas. Man muss nur mit offenen Augen durch die Stadt laufen.“
Der Wochenmarkt wird zum Lieblingstreffpunkt der Freundinnen. Nicht nur, weil sie hier problemlos unverpacktes Obst, Gemüse und Brot bekommen. Auch Käse, Fisch und Fleisch – wenn auch nicht auf Anhieb: „Ich war da anfangs sehr schüchtern“, sagt Erdmuthe Kriener. „Okay, wenn Sie das nicht unverpackt haben, dann kaufe ich nichts, danke!“, sei ihre Standardantwort gewesen. Ihre Freundin Vanessa ist da deutlich forscher unterwegs. „Die geht einfach hin und sagt: ‚Ich möchte das gern in meine Dose!‘“ Eigentlich dürfen selbst mitgebrachte Gefäße aus lebensmittelrechtlichen Gründen nicht hinter den Verkaufstresen gelangen. Aber es gibt einen kleinen Trick: Man kann das Gefäß auf die Theke stellen und den Verkäufer bitten, die Ware selbst hineinzulegen. „Manche drücken da ein Auge zu“, sagt Erdmuthe Kriener. Doch nicht immer läuft es glatt: „Im Supermarkt wollte Vanessa einmal Wurst in ihre Dose füllen lassen, doch der Verkäufer weigerte sich. Außerdem meckerte er, dass sei doch sowieso nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Nicht nur Verkäufer reagieren so. „Sehr skeptisch“ seien Freunde und Familie anfangs gewesen, als die Freundinnen von ihrem Plan erzählten. Der Satz, den Erdmuthe und Vanessa am häufigsten zu hören bekommen: „Ich könnte das nicht!“, direkt gefolgt von: „Das ist aber bestimmt total teuer und zeitaufwendig!“ Andere sagen, es sei kein Wunder, dass die zwei nicht mehr als ein Marmeladenglas Müll pro Monat produzieren, sie hätten ja keine Kinder.
„Wir wollen nicht missionieren“
Mit der Kritik können die zwei Freundinnen leben. Gut sogar, denn: „Was wir nicht wollen: Leute missionieren“, sagt Erdmuthe Kriener. Von heute auf morgen sind auch sie nicht zu Müllvermeiderinnen geworden. Worüber sie sich aber freuen: Wenn sie andere inspirieren – und sei es nur, eine eigene Wasserflasche zu benutzen statt sich immer wieder neue, kleine Trinkwasserfläschchen zu kaufen.
Ihr Start sah so aus: Sie brauchten alle Lebensmittel auf, die noch in Plastik verpackt waren. Verschenkten ihre Tupperware. Stellten eigene Zahncreme und Deos her. Durchsuchten die Keller ihrer Schwiegermütter nach Einweckgläsern. Und fanden auch in Hamburg Läden, in denen man unverpackte Ware einkaufen kann, etwa bei Twelve Monkeys auf St. Pauli oder bei Erdkorn in Eppendorf.
Ihre Erfahrungen teilen sie in ihrem Blog „Alternulltiv“. Gerade ist Vanessa Riechmann beruflich in der Schweiz und ein bisschen verzweifelt. „Hier ist es wirklich eine große Herausforderung, müllarm zu leben, nicht so wie in Hamburg.“ Besonders diszipliniert oder reich müsse man für ein müllfreies Leben auch nicht sein: „Man braucht lediglich den Willen, eine Umgewöhnungsphase und ein Auge dafür.“ Erdmuthe Kriener ist sich sicher: „Es gibt kein Zurück mehr.“ Wieso auch? „Uns geht es jetzt viel besser.“