(aus Hinz&Kunzt 181/März 2008)
„Erfolgreiche Hilfe aus einer Hand“: das leisten die Fachstellen für Wohnungsnotfälle laut Senat. Doch immer noch leben 3900 Menschen in Notunterkünften, mindestens 2500 verloren vergangenes Jahr ihre Wohnung. Was läuft falsch? Hinz&Kunzt hat eine Sozialarbeiterin der Fachstelle Mitte bei ihrer Arbeit begleitet.
An einem nassgrauen Wintermorgen sucht Rebekka Neumann einen alten Bekannten. Herr A. droht seine Wohnung zu verlieren, zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren. 1200 Euro Mietschulden haben sich angesammelt seit Mai, die fristlose Kündigung ist raus. Ein Telefon hat Herr A. nicht. Weil er auf Briefe nicht antwortet, ist die Sozialarbeiterin nach Billstedt gefahren. Nun steht sie vor der Tür eines gesichtslosen Rotklinkerbaus. Auf ihr Klingeln hin geschieht nichts. Die Helferin vom Amt versucht es bei den anderen Hausbewohnern. Keine Reaktion. Die Anlage ist kaputt. Sie sagt: „Ich gehe zur Wohnung der Ex-Frau.“
Herr A. ist ein Mensch, dem das Leben übel mitgespielt hat. Nach mehreren Schlaganfällen kann der 48-Jährige sich kaum fortbewegen ohne Rollstuhl. Früher wohnte er gemeinsam mit Frau und Kindern in der Drei-Zimmer-Wohnung an der Horner Landstraße. Dann hat sich die Ehefrau eigene vier Wände gesucht. Laut Melderegister wohnt Herr A. heute mit seinem erwachsenen Sohn zusammen. Der, so die Sozialarbeiterin, ist ein Teil des Problems: „Der kümmert sich nicht um seinen Mietanteil.“
Ruhiges Auftreten, verbindlicher Blick: Rebekka Neumann ist eine Frau, die Vertrauen weckt. 53 Jahre ist sie alt, mit ihrer schlanken Figur, Jeans und Eastpack-Rucksack könnte sie als 40-Jährige durchgehen. Viele Jahre hat sie Flüchtlinge in Notunterkünften betreut, 2005 wechselte sie in die Fachstellen. Ihre wichtigste Gabe sei, dass sie zuhören und auf Menschen zugehen könne, sagt sie über sich. Sie wisse, wie es sich anfühlt, wenn man Probleme verdrängt: „Ich hab meine BAföG-Mahnungen irgendwann auch nicht mehr aufgemacht. Die Hoffnung ist: Irgendwann lässt es dich in Ruhe.“
Die Wohnung von Frau A. ist nur wenige Straßen weit entfernt. Der Elektro-Rollstuhl vorm Hauseingang, halb verdeckt von einer Plastikplane, entgeht Rebekka Neumanns Augen nicht. Die Haustür steht offen, die Wohnungstür von Frau A. ist angelehnt. Die Sozialarbeiterin klingelt. Keine Reaktion. Sie klopft mehrmals laut. Stille. Vorsichtig drückt sie die Tür auf und ruft in den Flur hinein: „Hallo? Darf ich reinkommen?“ – „Ja!“, ruft eine Männerstimme zurück.
Herr A. liegt halb zugedeckt in T-Shirt und Unterhose auf einem Doppelbett. „Guten Tag, Herr A., wir kennen uns. Ich bin Frau Neumann von der Wohnungssicherung.“ Herr A. brummt. Die Sozialarbeiterin erkundigt sich nach seinem Befinden, und Herr A. sagt sarkastisch: „Der Doktor hat neulich zu mir gesagt: ,Du Pechvogel, du lebst ja immer noch!‘“ Wo seine Frau sei? In der Stadt. Der Sohn sei da. „Mit dem würde ich gerne mal sprechen!“
Rebekka Neumann geht ins Wohnzimmer, das auch Küche ist. Auf dem Tisch steht eine Schale mit aufgeschnittener Honigmelone, Weintrauben und Toast. Die Tür zum dritten Zimmer öffnet sich. A.s Sohn ist ein kräftiger junger Mann in T-Shirt und Hip-Hopper-Hose, der sich die dünnen Barthaare zu Zöpfchen flicht. „Ich hab Ihnen mehrmals geschrieben“, sagt Rebekka Neumann. – „Davon weiß ich nichts.“ – „Wohnen Sie hier?“ – „Nein, in der Wohnung meines Vaters.“ – „Ihre Miete wird nicht mehr überwiesen!“ – „Das Arbeitsamt hat einen Fehler gemacht. Meine Sachbearbeiterin hat mir gesagt: ,Warten Sie ein paar Tage, dann wird die Miete nachgezahlt.‘“ – „Das wäre sehr gut. Es gibt ein Problem: Das ist das zweite Mal, dass die Miete nicht gezahlt wird. Wenn der Vermieter nicht möchte, dass Sie in der Wohnung bleiben, wird’s schwierig!“ – „Hm.“
Als die Sozialarbeiterin nach einer halben Stunde die Wohnung verlässt, sagt sie: „Ich bin mir noch nicht im Klaren, was ich jetzt machen soll.“ Es ist eine dieser Geschichten, die immer komplizierter werden. Viele Fragen bleiben offen: Wohnt Herr A. nun wieder bei seiner Frau? Was ist mit dem Sohn? Wo wohnt der? Stimmt es, dass die Arbeitsgemeinschaft (Arge) einen Fehler gemacht hat, oder hat er sich einfach nicht gekümmert? Und, sicher die schwierigste aller Fragen: Was ist das Beste für Herrn A., und wie lässt sich das erreichen?
Hausbesuch statt Räumung: Seit langem streiten Wohlfahrtsverbände und Hinz&Kunzt dafür, dass die Helfer zu denen gehen, denen der Verlust ihrer Wohnung droht. Der Gedanke dahinter: Menschen haben manchmal so viele Probleme, dass sie sich aus eigener Kraft keine Hilfe mehr holen können. 2005 richtete die Stadt endlich die Fachstellen ein. „Aufsuchende Hilfe“ sollten sie leisten und bekamen dafür neues Personal. In der Praxis aber hapert es. Immer noch verlieren mindestens 2500 Hamburger im Jahr ihre Wohnung – in Städten wie Dortmund und Bochum sind es im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich weniger. Und: Die Sozialbehörde kann oder will nicht sagen, wie viele Hausbesuche die Helfer vom Amt machen und nach welchen Kriterien. Nur zwei der sieben Fachstellen, heißt es in einem Behördenbericht von November, gehen regelmäßig zu den Betroffenen, wenn diese sich auf Briefe hin nicht melden – auch wenn die Räumungsklage schon beim Gericht liegt.
Auch Frau G. ist Rebekka Neumann schon bekannt. Der Vermieter hat sich wieder gemeldet. Frau G. hat seit fünf Monaten keine Miete bezahlt. „Diese Frau hat Angst, zu Behörden zu gehen. Das letzte Mal hat sie ihrem Arge-Sachbearbeiter monatelang keine Papiere gebracht.“ Als Rebekka Neumann an der Haustür des Altbaus in Rothenburgsort klingelt, passiert auch hier nichts. Die Briefträgerin biegt um die Ecke. Ob sie Frau G. kennt? „Nur den Namen. In dieser Gegend wohnen kritische Leute. Da bin ich froh, wenn ich die Briefkästen füttern und gehen kann.“ In Frau G.s Briefkasten liegen einige Briefe. An der Wohnungstür im ersten Stock hängt ein Kranz. Da auf ihr Klingeln hin nichts geschieht, schiebt Rebekka Neumann einen Brief in den Briefkasten: „Ich hoffe mal, dass sie sich meldet.“ Wenn ihr etwas passiert ist? „Das glaube ich nicht. Haben Sie die Blumen am Fenster gesehen?“
Weil die Stadt die Notunterkünfte leeren will – öffentliche Unterbringung ist teuer –, sollen die Fachstellen-Mitarbeiter auch in die Wohnheime gehen und den Menschen dort zu eigenen vier Wänden verhelfen. 600 Wohnungen zusätzlich, so heißt es in einem Vertrag mit den großen Hamburger Wohnungsunternehmen, stellen diese dafür bereit. So weit die Theorie. Real erfüllen die Unternehmen ihre Zusagen bei Weitem nicht. Statt 1244 Wohnungen stellten sie vergangenes Jahr 627 bereit – die Hälfte des Versprochenen und deutlich weniger als in früheren Jahren.
An einem Morgen im Februar fahren Rebekka Neumann und zwei Kolleginnen in den Billbrookdeich, wo 122 Männer oft schon seit Jahren in kargen Zwei-Bett-Zimmern wohnen. Im Gepäck haben sie vier Angebote von Saga GWG. Da die Wohnungsgesellschaft kommende Woche potenzielle Mieter kennenlernen will, ist Eile geboten. Die Fachstellen-Mitarbeiterinnen haben Briefe an Kandidaten rausgeschickt. Nun stehen vier Männer vor dem Büro der Unterkunftsleitung und warten. Einer ist Herr D.
D., ein 46-jähriger gebürtiger Togolese mit deutschem Pass, wohnt erst seit wenigen Tagen in der Unterkunft. Nach vielen Streitigkeiten hat er sich von seiner Frau getrennt. Mit Krawatte, hellblauem Hemd und Anzughose unterscheidet er sich sichtbar von vielen Zimmernachbarn. Und: D. hat Arbeit. Jede Nacht steht er am Förderband und sortiert Pakete. Er könnte den idealen Wohnungsbewerber abgeben – wäre da nicht diese Geschichte mit der Saga, die ihm offenkundig die Nerven raubt.
Seit Jahren liegt D. mit der Wohnungsgesellschaft im Streit. Es geht um Geld, wiederholt muss ein Amtsrichter urteilen. Die Beweise dafür, dass er auch im Recht war, trägt D. in einer Aktentasche mit sich rum. Im September aber macht er einen Fehler: Er kündigt nach schwerem Streit mit seiner Frau den Mietvertrag. Zehn Tage später widerruft D. die Kündigung. Er hat sich mit seiner Frau versöhnt – und glaubt, mit einem Brief sei alles im Lot. Es folgen verwirrende Schreiben von der Saga. Mal ist von 900 Euro Mietschulden die Rede, mal von 1600. Tatsächlich geht es wohl um deutlich weniger Geld.
Unmissverständlich aber ist: Die Saga will dem Wunsch nach Rücknahme der Kündigung nicht folgen.
„Die Saga lügt! Ich habe meine Miete immer pünktlich bezahlt!“ Die Hände von Herrn D. wirbeln durch die Luft. „Sie hätten die Wohnung längst räumen müssen!“, sagt Rebekka Neumann. Sie hat mit der Wohnungsgesellschaft telefoniert. Die droht mit einer Räumungsklage. „Das Schlauste ist, dass wir schauen, wo Sie Ihre Möbel unterstellen können. Wenn die Saga räumen lässt, wird das teuer!“ – „Ich möchte meine Wohnung tauschen!“ – „Die Saga sagt Nein.“ – „Dann bleibt mir keine Wahl. Wenn der Richter sagt, das ist o.k., dann geh ich.“
D. ist ein stolzer Mann. Einer, der aus einem Land kommt, in dem Menschenrechte nicht viel wert sind, und der auch hier oft das Gefühl gehabt haben muss, dass ihm Unrecht geschieht. Einer, für den die Saga so etwas wie das Sinnbild des Sozialstaats scheint, von dem er sich jetzt verraten fühlt. Vor allem aber ist er einer, der nicht versteht, warum eine Mietabrechung falsch und eine Kündigung trotzdem rechtens sein kann.
Fünf Tage später. Herr D. kommt wie vereinbart zur Fachstelle. Er hat ein Schreiben an das Amtsgericht vorbereitet: „Sehr geehrter Herr Richter“, heißt es darin, „ich deponiere oder baue aus eine Klage gegen die Korruption der Saga.“ Die Sozialarbeiterin ist am Ende ihrer Möglichkeiten. Obwohl der Mieterverein Herrn D. geschrieben hat, dass er die Wohnung nicht retten kann, ist dieser zum Rechtsstreit entschlossen: „Soll ich mich rausschmeißen lassen wie einen Kriminellen?“
Ob die Lösung sein könnte, ihm eine Wohnung bei einem anderen Vermieter zu beschaffen und die Kaution vorzustrecken, da D. ja offenbar gerade keinen Euro übrig hat? „Vielleicht“, sagt Rebekka Neumann. „Aber ich habe eine solche Wohnung nicht. Und die Kaution kann ich auch nicht vorstrecken.“ Die Helferin vom Amt ist sichtlich unzufrieden. „Machen Sie es gut!“, sagt sie zum Abschied. „Wenn es so kommt, dass Sie aus der Wohnung rausmüssen und keine andere haben, können Sie natürlich wiederkommen. Ich hoffe aber, wir sehen uns nicht wieder – jedenfalls nicht hier.“
In den anderen Fällen hat sie mehr Erfolg. Der Vermieter des kranken Herrn A. hat nicht auf das Schreiben von Rebekka Neumann reagiert. So bleibt noch Zeit. Das Sozialamt übernimmt vorerst die Miete komplett. Das Vormundschaftsgericht hat zugestimmt, dass ein Betreuer sich um Pflege, Finanzen und Wohnsituation von Herrn A. kümmert. Zudem hat eine Freundin der Familie angerufen: Sie werde sich des Sohnes annehmen.
Auch Frau G.s Wohnung ist gesichert. Ein Bekannter hat sie überredet, die Post gemeinsam zu öffnen. Nachdem der angerufen hat, hat Frau G. den Gang zur Fachstelle gewagt. Die Sozialarbeiterin hat die Lage richtig eingeschätzt: Die Frau hat sich erneut aus Angst nicht aufs Amt getraut. „Sie hat monatelang kein Geld von der Arge bezogen – obwohl sie Anspruch darauf gehabt hätte.“ Für die Helferin vom Amt ist dieser Fall klar: Die Fachstelle hat die ausstehende Miete komplett übernommen.
Ulrich Jonas
DIE FACHSTELLEN IN ZAHLEN Angaben der Sozialbehörde zufolge arbeiten die Fachstellen für Wohnungsnotfälle mit Erfolg: An 1695 Haushalte ist vergangenes Jahr Wohnraum vermittelt worden, 70 Prozent aller gefährdeten Wohnungen konnten gesichert werden. Die Zahl der Zwangsräumungen ist im Vergleich zu 2005 um 20 Prozent gesunken, die Kosten für die öffentliche Unterbringung ebenfalls: von 36,6 Millionen Euro 2005 auf rund 30 Millionen Euro im vergangenen Jahr.
Die Wohlfahrtsverbände reagierten mit Kritik. Die Umsetzung des Fachstellen-Konzepts bleibe weit hinter den Erwartungen zurück. Vor allem Wohnungslose mit massiven Problemen bekämen nicht genug Unterstützung. Nur in jedem zehnten Fall würden die Fachstellen-Mitarbeiter einen Hausbesuch machen – zu wenig.