Die Stadt Kiel verbietet nicht das Trinken in der Öffentlichkeit, sie finanziert der Szene stattdessen einen „Saufraum“
Um die lokale Trinkerszene und die Gewalt in St. Pauli einzudämmen, wollen Hamburger Politiker das Trinken in der Öffentlichkeit verbieten. In Kiel gab es diese Diskussion schon vor mehreren Jahren, ein Trinkverbot scheiterte vor Gericht. Die Stadt Kiel und das Straßenmagazin Hempels haben stattdessen einen „Saufraum“ für die lokale Trinkerszene geschaffen. Hinz&Kunzt hat das Projekt besucht
(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)
Kai kommt jeden Tag hierher. In dem großen verqualmten Raum in der Schaßstraße fühlt sich der 47-Jährige wohl. Während er einen Kaffee trinkt und sich an der Theke eine Zigarette dreht, packen die anderen Gäste gerade ihren Alkohol aus, den die meisten sich selber mitgebracht haben: Bier in Plastikflaschen, billiger Weißwein aus Tetrapaks, alles, nur nichts Hochprozentiges – das ist verboten.
Mit der großen Holztheke und den langen Tischen wirkt der Raum fast wie eine ganz normale Kneipe. Zwei Hunde wuseln durch die Gegend, es läuft Musik von Led Zeppelin. Einige Gäste – die meisten sind arbeitslos, haben aber eine Wohnung – sind um diese Uhrzeit schon ziemlich betrunken, trotzdem macht die Szene einen friedlichen Eindruck. Dass die Leute hier schon morgens trinken dürfen und auch ihren eigenen Alkohol mitbringen können, ist eine der zentralen Ideen hinter dem Projekt. Gestartet wurde der „Saufraum“ 2003 nicht etwa als sozialpädagogisches Projekt, sondern weil die Stadt das Stadtbild „verschönern“ wollte. „Maßnahme zur Entspannung einer Straßenszene“ heißt das im Behördendeutsch. Anwohner hatten sich immer wieder über Gruppen von Betrunkenen in der Gegend beschwert. Auch Kai gehörte zur Trinkerszene. Weil er und die anderen kein Geld für den Gang in die Kneipe hatten, kauften sie sich den Stoff eben beim Discounter. „Wir saßen oft auf einer Mauer vorm Aldi, bis sie da einen Zaun auf die Mauer gebaut haben.“ Von da aus zog die Gruppe weiter zum nahegelegenen verwahrlosten Spielplatz. „Aber vom Spielplatz und aus dem Park hat man uns auch immer verscheucht“, sagt Kai.
Das Trinkverbot. Kieler Politiker sahen zunächst in einem Trinkverbot auf öffentlichen Straßen und Plätzen eine Lösung. Das Straßenmagazin Hempels hatte sich aktiv in die Diskussion eingeschaltet. „Wenn hier Leute mit Geld durch die Straßen torkeln dürfen, dann dürfen das arme Leute auch“, sagte Hempels-Vorstand Jo Tein. Das Trinken in der Öffentlichkeit könne man nicht verbieten. „Wie soll denn das gehen, wenn man in einer normalen Kneipe Bier trinken darf, aber nicht auf einer Parkbank? In diesem Sinne entschied auch das Oberverwaltungsgericht Schleswig im Juni 1999. Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit, so befanden die Richter, beeinträchtige nicht in unzumutbarem Maße die Nutzung von Straßen und öffentlichem Raum und stelle auch kein generelles Sicherheitsrisiko dar.
Bei alkoholbedingtem Fehlverhalten wie Pöbeln oder Urinieren im Freien sei dann ganz normal die Polizei zuständig. Das Trinkverbot war vom Tisch. Etwa zeitgleich meldeten die Verkäufer von Hempels den Wunsch an, ein Clubcafé zu eröffnen. Gute Idee, befand der Vorstand. Ob dort Alkohol ausgeschenkt werden sollte oder nicht, wurde lange diskutiert. Aber dann gab es eine Mehrheitsentscheidung zugunsten der Verkäufer. Die Argumente: „Wenn wir einen eigenen Treff haben, wollen wir das auch selbst entscheiden mit dem Alkohol“, befanden sie. „Wir sind erwachsene Leute.“ Tein hatte durchaus Bauchschmerzen bei der Entscheidung. „Aber sie hat sich bewährt“, findet er. Draußen auf der Straße spitzte sich die Lage zu. Das Trinkverbot war zwar gekippt, aber nichtsdestotrotz wurde es für die Trinkerszene ungemütlich: Ständig gab es Kontrollen und Platzverweise, weil sich irgendwer belästigt fühlte. Ausgerechnet ein „Behördenmensch“ hatte dann eine Idee: Christoph Schneider, Abteilungsleiter im Amt für Wohnen und Grundsicherung der Stadt Kiel, ist quasi der Erfinder des „Saufraums“. Er beurteilt ein Trinkverbot ganz ähnlich wie Hempels: „Man kann nicht allen das Trinken verbieten, denen eine normale Kneipe zu teuer ist.“
Weil Gruppen von Trinkern aber für viele Kieler trotzdem bedrohlich wirken, plädierte er für einen eigenen Raum für die Szene. Eine Art Café „ist eine bessere Lösung, als die Trinker immer wieder zu vertreiben und sie wie Kriminelle zu behandeln“. Erstaunlich. Die Szene hat den „Saufraum“ offensichtlich angenommen. Vor Aldi, auf dem Spielplatz – niemand mehr. Ohne Trinkverbot. Einfach nur, weil es draußen ungemütlich wurde – und drinnen anheimelnd. Es gibt nicht nur den Raum, der von 9 bis 15 Uhr geöffnet ist, es gibt auch Ein-Euro-Jobs. Die Stadt finanziert das Angebot mit 75.000 Euro auf eine Dauer von drei Jahren. Davon werden zwei Tresenkräfte beschäftigt. Eine Weile hat Kai als Ein-Euro-Jobber an der Theke gearbeitet, jetzt hilft er manchmal ehrenamtlich, wenn eine Thekenkraft ausfällt. Die Arbeit mache ihm Spaß, sagt Kai. Außerdem hat er durch die Arbeit im „Saufraum“ viel gelernt. Früher war er oft aggressiv. „Ich bin ruhiger geworden“, sagt er, „wenn man mit so vielen Menschen zu tun hat, dann ist man gezwungen, sich auf sie einzulassen und sie so zu akzeptieren, wie sie sind.“Unterschiedliche Gruppen von Trinkern sitzen hier friedlich miteinander am Tisch, erzählt Kai. Alkoholiker und Drogenabhängige, auch Menschen aus ganz Schleswig-Holstein, die in Kiel beim Arzt ihre Ersatzstoffe für den Drogenentzug bekommen und früher ebenfalls oft den ganzen Tag auf der Straße gestanden haben. „Das Beste an dem Raum hier ist, dass wir jetzt etwas Eigenes haben, wo uns keiner verjagen kann“, sagt Kai.
Gibt es bei so viel Alkohol nicht auch oft Streit? „Wir schlichten hier alle Streitigkeiten selbst und passen aufeinander auf“, sagt Kai. „Die meisten Leute kennen sich seit Jahren, wir vertrauen und respektieren uns.“ Richtig handfest wird es schon deshalb selten, weil die Gäste wissen, dass ihnen ein Hausverbot droht. „Das ist im Ernstfall ein gutes Druckmittel“, sagt Kai und grinst. Der lange Atem zahlt sich aus. Jochen Schulz, Straßensozialarbeiter und Geschäftsführer von Hempels, war anfangs skeptisch. Seine Bedenken: „Bleiben die Leute nicht zu sehr sich selbst überlassen? Manifestiert man nicht die Szene?“ Heute sagt er: „Natürlich ist der ‚Saufraum‘ kein Allheilmittel.“ Aber es gebe viele positive Seiten an der Einrichtung, zumal im Haus eine Beratungsstelle und Hempels untergebracht sind. Die Stadt bezahlt inzwischen 25 Wochenstunden für Sozialarbeit. „Viele unserer Kunden stabilisieren sich und entwickeln echte Perspektiven“, sagt er, „hier können wir sie mit Hilfsangeboten wirklich erreichen.“ Auch wenn viele Gäste erstmal keine Hilfe annehmen wollten, so könnten die Sozialarbeiter langfristig doch für die meisten etwas tun: Die sechs Ein-Euro-Jobber und die sechs Ehrenamtlichen, die neben den Festangestellten an der Theke arbeiten, seien zum Beispiel alle ehemalige Gäste, die ihren Alkoholkonsum mittlerweile einigermaßen im Griff haben. „Alle, die hier hinterm Tresen stehen, haben eine Geschichte vorm Tresen“, sagt Schulz. Inzwischen lassen 25 Gäste ihr weniges Geld bei Hempels über ein Treuhandkonto verwalten, damit Gläubiger es nicht pfänden können. Catharina Paulsen, ebenfalls im Hempels-Vorstand, hilft bei Behördengängen und Stromschulden, etwa zehn Leute berät sie im Moment zu Schuldenfragen. „Drei Leuten helfe ich derzeit, ihre Privatinsolvenz anzumelden“, sagt sie, „die wussten vorher gar nicht, dass das überhaupt möglich ist.“
Ob so ein Raum auf Hamburg übertragbar ist? Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt, ist skeptisch. „Für den Kiez sicher nicht“, sagt er. „Vielleicht für gewisse Stadtteile, wo es feste Gruppen gibt, die sich untereinander kennen. Ganz wichtig: Zu einem Treff gehören Arbeitsplätze wie in Kiel – und Sozialarbeit.“ Und das sei auf keinen Fall eine Billigvariante. Karrenbauer: „Die Leute müssen immer wieder animiert werden, aus der Szene auszusteigen.“
Text: Hanning Voigts und Birgit Müller