Kirchdorfs gute Kinderstube

Die Lütten können sich austoben. Die Mütter tauschen Tipps und guten Rat in der Kinderstube in Kirchdorf-Süd. Alles ehrenamtlich und ausdauernd erfolgreich

(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)

Jens muss ran. Er nimmt schon mal seine Polizeimütze in die Hand. „Mein Sohn möchte eine Anzeige aufgeben“, sagt Nesrin El-Kassem und schiebt den kleinen Mohammed vor: Seine Schwester Nadja hat ihn eben gehauen. Jens kratzt sich kurz am Kopf, überlegt: „Und was war vorher los?“ – „Hab geärgert“, sagt Mohammed stolz. Jens setzt seine Mütze auf: „Dann kann ich da nichts weiter machen, aber …“ Er nimmt Mohammed an die Hand, geht mit ihm nach hinten ins Spielzimmer, wo die Kinder toben.

Jens Szymkowiak schaut des Öfteren in der Kinderstube vorbei. Er ist bürgernaher Beamter, und Kirchdorf-Süd mit seinen ineinander verzahnten Blocks und Hochhäusern gehört zu seinem Bezirk. „Hier hat sich viel getan“, sagt er, „hier ist es bei Weitem nicht mehr so schlimm wie noch vor zehn, fünfzehn Jahren.“ Klar, Kriminalität gebe es eben in solchen Großwohnsiedlungen. Wenn es dunkel wird, nachts. Aber tagsüber, kein Problem.

Er zählt auf, welche Einrichtungen sich hier um die Kinder und auch die Jugendlichen mittlerweile kümmern: die Kinderstube, natürlich. Der Kindertreff, und für die Mädchen der Mädchentreff „Dolle Derns“, der Baui, der Kinderbauernhof, die Straßensozialarbeit und das Jugendzentrum. Obwohl: Denen sind in diesem Jahr zwei Stellen gestrichen worden. Kirchdorf gehört zu Wilhelmsburg, und das fällt nun an den Bezirk Mitte, weshalb Harburg vorher Mittel aus dem Kinder- und Jugendbereich abgezogen hat. Ausgerechnet zwei der Sozialarbeiter mussten gehen; die beiden mit – wie man heute sagt – Migrationshintergrund.

Der Kinderstube kann so etwas nicht passieren. Hier geschieht alles ehrenamtlich. Die Saga als größter Vermieter am Ort stellt die Räume, ist auch sonst ansprechbar, wenn etwas für die Kinder getan werden kann. Aber vor allem ist da Bettina Gotfredsen: Sie hat die Kinderstube 1994 gegründet, ist ihr Herz und Hirn. Und das kam so: „Mein Kind war klein, im Sommer trafen wir Mütter uns draußen auf den Spielplätzen, die damals nach und nach ganz schön gestaltet wurden. Dann kam der Herbst, der Winter, wir saßen alle allein mit den Kindern in unseren Wohnungen, und ich dachte: Das kann es ja wohl nicht sein.“ Sie sprach die Saga an, organisierte, machte und tat. Dreimal musste sie mit der Stube mittlerweile umziehen, nun hat die Kinderstube eine Etage im Erdgeschoss, die Platz bietet für eine Sitzecke im Eingang, ein Büro, eine Küche, einen Essraum und den Spieleraum für die Kinder. Ab nachmittags ist geöffnet, wer kommen will, kommt: Kinder mit ihren Müttern. Bis zu 20 Kinder tummeln sich manchmal, zusammen verbringen sie den Nachmittag, manchmal ganz unspektakulär. Dann wieder wird zusammen gebacken, gekocht, werden kleine Feste organisiert.

In einem Regal stapelt sich Kinderkleidung: T-Shirt 20 Cent – Hosen 50 Cent – Jacken 80 Cent. Ganz umsonst soll es nicht sein. Bettina Gotfredsen hält alles am Laufen, kümmert sich um ihre kleines Team: „Ich mach das, weil [BILD=#bettina][/BILD]ich das machen will, nicht weil ich das machen muss“, sagt die 47-Jährige und erzählt fast schnaubend, was sie manchmal zu hören kriegt: „Da sagen die Leute: ‚Also, du bist ja bescheuert, dass du das machst, wo dein Kind groß ist.‘ Da krieg ich so einen Hals!“

Bettina Gotfredsen war selbst noch fast ein Kind, als sie zu Hause ausgezogen ist: „Mit 14, weil’s nicht mehr ging, ich kenn die ganze Scheiße. Ich hab aufm Boden geschlafen und auf Bananenkartons gehockt. Ich hab dann meinen Mann kennengelernt, noch in Harburg. Dann sind wir hier rüber nach Kirchdorf-Süd, da haben wir unsere allererste Wohnung bekommen, für 20 Mark Miete. Seitdem bin ich hier. In der Stube unten bin ich die Älteste; die anderen sind alles Küken, 20, Mitte 20.

Ihr Engagement geht über die Kinderstube hinaus. Im Nu ist sie aus der Tür, als sie die beiden

Landschaftsarchitekten entdeckt, die verfroren durch die Anlage schlendern. Bespricht mit ihnen, wo man was begradigen könnte und wo ein Zaun hin könnte und wo nicht. Und sie sollen die Baupläne vorher mal zeigen, bevor wieder alles fertig ist!

„Das letzte Mal haben sie so eine Krabbelwand aufgebaut, wo so hübsch die Schrauben richtig ein Stück rausguckten. Die Kinder haben ja alle an ihren Jacken so Bänder, an den Kapuzen; kann man prima dran hängen bleiben und sich würgen; da hab ich Bescheid gesagt, mussten die alles wieder abbauen und neu machen, gut ’ne?“ Sie nimmt sich eine Zigarette, inhaliert einen Zug, sagt nun ganz gedehnt: „Man könnte ja vorher mal jemanden fragen, der sich mit Kindern auskennt. Nur so als Idee.“

Sie schaut sich in der Runde um: zustimmendes Nicken. Was hatten sie eben beredet? Die

Nebenkostenabrechungen! Mal wieder sind sie den Leuten ins Haus geflattert, und mancher staunt, will die sich vom Amt wiederholen. „Stromgeld? Das Amt zahlt doch kein Stromgeld!“, stellt Bettina Gotfredsen klar. Dafür gibt es einen Kinderzuschlag, manche hat noch nie davon gehört. Oder gehört schon, weiß aber nicht, wo man den genau beantragt. Jedenfalls das Amt nervt. Und nur so als Beispiel und als Kommentar für die Diskussion um die Pflichtuntersuchungen für Babys und kleine Kinder: Es gibt hier in ganz Kirchdorf mit seinen 6000 Bewohnern und also Hunderten von Kindern keinen Kinderarzt: „Da musst du nach Wilhelmsburg zum Bahnhof fahren, und da sitzt du, da musst du dir schön viel Zeit mitnehmen, so sieht’s aus.“

Zwischendurch kommen die Kinder vorbei; schauen mal, was so los ist. Sie klettern ihren Müttern auf den Schoß, klettern wieder runter, zeigen Malbücher vor, nehmen sich was zu trinken, greifen nach einem der Äpfel, die als Spende in einer Kiste neben der Tür liegen. „Abgebeißt“, sagt Mohammed. „Abgebissen“, antworten ihm die Frauen im Chor. Erklären, dass es besser „ich möchte“ heißt, nicht „ich will“. Und reden weiter, wie schön es doch wäre, wenn die vom Amt einfach mal ihren Job tun und nicht ständig Bescheinigungen verlangen würden, auf denen ja doch nur das drauf steht, was die schon wissen: wie hoch die Miete ist, der Nebenverdienst; wie alt die Kinder sind.

Nadja steht in der Tür, erzählt, dass sie sich grad alle schubsen. Nesrin El-Kassem springt auf, aber falscher Alarm: „Mama, wir spielen Schubsen!“ Später hört man aus dem Spielezimmer ein dumpfes Plumpsen: Die Kinder haben alle Kissen in der Mitte des Raumes zusammengetragen, sie klettern nacheinander auf den Tisch und springen in die Kissen. Auch die beiden zarten Burschen Fynn-Tyson und Lucas-Steven von Viola Matezki. Ist es vielleicht ein wenig zu hoch für die beiden? Sie winkt ab: „Ihr Vater ist Boxer.“

Draußen dämmert es, Bettina Gotfredsen macht die Tür einen Spalt auf, damit der Zigarettenrauch abziehen kann. „Wir brauchen hier keine Sozialpädagogen“, sagt sie, und eine ihre Mitstreiterinnen ergänzt: „So wie du bist, kommst du besser mit den Kindern zurecht.“ Sie geben sich Tipps, wo es etwas billig gibt; klären, wer was aus der Stadt mitbringen kann. Wenn zwischendurch was besorgt werden muss, greift jede in ihre Tasche und legt ein Ein-Euro-Stück auf den Tisch. Was übrig bleibt, kommt in die Dose für die Kinder.

Sie haben es jeweils nicht dicke, da ist es besser, sie halten zusammen, also halten sie zusammen. Springen ein, wenn eine von ihnen plötzlich wegmuss, zum Amt, zum Job oder überhaupt und die Kinder nicht mitnehmen kann oder will. Undenkbar, dass dann eine sagt: „Also echt du, das passt mir heute irgendwie gar nicht.“ Oder: „Ach nee, weißt du, ich brauche grad mal ein bisschen Zeit für mich.“ Das geht nicht immer reibungsarm ab. Da fliegen auch mal die Fetzen. „Wir reden hier Klartext miteinander“, sagt Bettina Gotfredsen, „wenn was schiefläuft, muss es angesprochen werden.“ Sie ergänzt: „Ich mach keinen Stress, ich diskutier.“ Hartnäckig, zäh, ausdauernd. Nicht nur in der Kinderstube. Sie engagiert sich auch als Mietervertreterin und im Bewohnerverein, ehrenamtlich. „Weil ich es wichtig finde. Weil mich die Leute ansprechen, weil sie mit ihren Sorgen zu mir kommen, weil wir das klären müssen und weil ich einfach die Leute nicht wegschicken mag.“

16 Uhr ist rum. Die älteren Kinder kommen, die Schule hat auf Ganztagsbetrieb umgestellt. „Und wo ist deine Schwester?“, fragt Viola Matezki ihre Tochter Maren. Vielleicht wartet sie oben vor der Wohnung? Maren geht hoch, gucken. Kommt zurück, nee, ihre Schwester ist nicht da. Ist weder bei der Oma noch bei der Nachbarin, wie ein Anruf ergibt. Jetzt gibt es viele Möglichkeiten: Sie ist noch in der Schule, sie ist mit einer Freundin mit oder sie tobt irgendwo draußen rum oder in einem der Aufgänge. „Hier geht kein Kind verloren“, sagt Bettina Gotfredsen. Sie muss jetzt los, drüben im Freizeithaus putzen, keine große Sache, eine halbe Stunde vielleicht, dann ist sie wieder da. Und weg ist sie.

Viola Matezki nimmt noch einen Schluck Kaffee, dann steht sie mit Schwung auf: „Ich mach mich mal auf die Suche.“ Sie nickt mit dem Kopf kurz in Richtung ihrer Kinder. „Kein Problem“, sagt Nesrin El-Kassem, „ich bin doch da.“

Frank Keil

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