Bett unter der Brücke

Gemeinsam sind wir stärker: Nach diesem Motto haben sich zwölf Obdachlose auf Platte zusammengetan. Einige gehen sogar arbeiten.

(aus Hinz&Kunzt 176/Oktober 2007)

Eine Brücke irgendwo in Hamburg: Nacht für Nacht schlafen hier zwölf Menschen im Freien. Gegen die Probleme auf der Straße halten sie als Gruppe zusammen. Manche haben sogar einen festen Job, doch eine Wohnung finden sie nicht. Hinz&Kunzt hat die Gruppe auf ihrer Platte besucht, deren Ort geheim bleiben muss, um die Obdachlosen zu schützen.

Über Sauberkeit und Hygiene gibt es keine Diskussion. „Es muss hier absolut sauber sein, daran müssen sich alle halten“, sagt Kalle, den alle „großer Kalle“ nennen. Man merkt, was der 50-Jährige mit dem kurz geschnittenen blonden Haar sagt, hat Gewicht in der Gruppe. Drogen sind verboten. „Keine Bierflaschen herumliegen lassen, keine Passanten anpöbeln, jeden Tag die Platte fegen“, ergänzt der 39 Jahre alte Michael die selbst gemachten Regeln für das Leben unter der Brücke. Dunkel ist es hier am späten Abend, kalt und windig. Die Kälte kriecht in die Glieder. Die Gruppe bereitet sich gerade auf die Nacht vor, eine einzige Kerze flackert im Wind. Trotz der schwierigen Situation ist die Stimmung nicht schlecht, es wird gescherzt und gelacht.

Seit fünf Monaten schlafen die zwölf Obdachlosen gemeinsam unter der Brücke. Kennengelernt haben sie sich in Tagesaufenthaltsstätten, nach und nach wuchs die Gruppe zusammen. 52 ist der älteste der elf Männer, Annika ist mit 19 die Jüngste und zudem die einzige Frau, sie hat daher einen besonderen Status. „Die Jungs geben mir Sicherheit auf der Straße“, sagt sie, „wenn mir einer dumm kommt, dann helfen sie mir sofort.“ Mit einigen aus der Gruppe könne sie auch über ihre Probleme reden. Seit einigen Tagen verkauft sie Hinz&Kunzt, abends kehrt sie zurück zu den anderen. „Das ist meine Familie“, sagt sie, „für die Jungs bin ich ihre kleine Schwester.“

Die Regeln der Gruppe sind eindeutig. So müssen alle damit einverstanden sein, wenn jemand Neues sich anschließen möchte. „Das ist doch klar“, sagt der große Kalle. „Wenn hier einer nur noch rumhängt, dann zieht er die anderen mit runter. Wir passen auf uns und die Platte auf.“ Vertrauen ist wichtig. Denn keiner könnte ruhig schlafen, wenn er Angst um seine Sachen haben müsste. Heute hat sich ein Gast für zwei Nächte der Gruppe angeschlossen, er liegt schon in seinem Schlafsack. Die anderen stehen herum und rauchen, einige wippen auf den Fußspitzen auf und ab. Der Wind weht Regen unter die Brücke.

Michael wirkt unsicher und hoffnungslos. der 39-Jährige lebt seit Wochen nur noch vom Pfandflaschensammeln. Das Arbeitslosengeld II wurde ihm gestrichen. „Mein Sachbearbeiter wollte, dass ich eine PC-Schulung mache. Aber ich könnte nicht morgens um acht auf der Matte stehen, das würde ich nicht packen“, glaubt er. „Ich gehe ohne Begleitung nie wieder in dieses Amt. Da habe ich zu viel Angst. Lieber lebe ich weiter vom Flaschensammeln.“ Trotzdem macht ihn wütend, dass ihm keiner richtig hilft. „Ich war zwölf Jahre bei Phoenix, ich habe einen Staplerführerschein und alles, und jetzt verstecke ich mich hier, und das mitten in Deutschland!“

Neben ihm steht George (Name geändert, Red.), der aus Griechenland kommt und seit 22 Jahren in Hamburg lebt. Der 35-Jährige hat dunkle Augen und trägt eine Baseballkappe. Zwischen seinem hochgeklappten Kragen und seiner Kappe guckt ein freundliches Gesicht hervor. George arbeitet bei einer Leiharbeitsfirma, packt Modeschmuck in Pakete oder scannt Ware ein. „Ich fange morgens um halb acht an, um sechs muss ich aufstehen“, erzählt er. „Ich verdiene etwa 700 Euro im Monat. Wie soll ich davon eine Wohnung, mein HVV-Ticket und Essen bezahlen?“ George kennt viele Menschen, die arbeiten und trotzdem auf der Straße leben. Die Mieten seien zu hoch, es gebe zu wenig Sozialwohnungen. „Jobs gibt es genug, nur das Geld stimmt nicht.“

George und die anderen beiden, die Arbeit haben, gehen nach dem Aufstehen zum Bahnhof und machen sich dort frisch. Die anderen säubern die Platte und bringen die Habe der Gruppe zum „Stützpunkt“, einer Anlaufstelle für Obdachlose, die Schließfächer bereithält. Am späten Nachmittag treffen sich dort alle wieder, trinken einen Kaffee, duschen in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As und bauen dann ihre Platte wieder auf. Abends bekommen die Obdachlosen Brötchen und heißen Tee vom Mitternachtsbus gebracht, der oben auf der Brücke hält. Mit der Polizei gibt es keinen Ärger, die Beamten kommen ab und zu vorbei. „Die haben nichts gegen uns, weil wir hier alles in Ordnung halten“, erzählt der große Kalle, „letztens haben die Polizisten uns sogar auf das Winternotprogramm aufmerksam gemacht.“

Er trägt eine dicke blaue Windjacke, sein Händedruck ist fest. Man würde nie denken, dass er seit einem Jahr auf der Straße lebt. Immer wieder ruft er den anderen etwas zu und leuchtet mit seiner Taschenlampe. Kalle war jahrelang Vorarbeiter, war verheiratet. Dann kam der Absturz. „Das soziale Niveau in dieser Stadt ist mittlerweile so schlecht, es ist beschämend“, sagt er, „es gibt nicht mal mehr öffentliche Toiletten, die man ohne Geld besuchen kann.“ Besonders wichtig fände er eine zentrale Anlaufstelle für Obdachlose mit Duschen und warmen Aufenthaltsräumen, die rund um die Uhr geöffnet hat. „Aber die Deutschen verschließen sich vor den Problemen“, klagt er. Kalle hat sich entschieden, das Land zu verlassen. „Ich will nach Belgien und dann nach Afrika“, sagt er, „ich hab Kontakt zu einem Projekt, die für die Menschen dort Brunnen bauen.“

Stefan zündet sich eine Zigarette an, er trägt nur ein dünnes rotes Sweatshirt und eine Baseballkappe. Sein Gesicht ist kantig und freundlich. Der 39-Jährige hat lange Zeit Hinz&Kunzt verkauft, dann nahm er ein Jobangebot vom Arbeitsamt an. „Jetzt schufte ich als Zeitarbeiter für 6,33 Euro brutto die Stunde und habe netto weniger Geld als vorher Arbeitslosengeld“, erzählt er. „Mein Sachbearbeiter weiß, dass ich obdachlos bin. Aber er meinte nur, ich wäre ja fit für den Arbeitsmarkt.“ Stefan weiß, dass er Verantwortung trägt für seine Situation. „Ich habe mich verschuldet und viel Mist gebaut, das ist auch okay“, sagt er, „ich komme schon wieder auf die Beine.“ Wie den anderen auch ist es ihm wichtig, dass man ihm die Armut nicht ansieht. „Von meinen Kollegen darf niemand wissen, dass ich obdachlos bin“, sagt er, „ich würde den Job sofort verlieren.“

Trotz allen Zusammenhalts wird es die Gruppe nicht ewig geben. Bald kommt der Winter. Dann werden einige versuchen, in einer Notunterkunft oder in einem der Container des Winternotprogramms unterzukommen. Andere wie George oder Annika wollen eine Wohnung suchen. „Hoffentlich findet sich für alle eine Lösung“, seufzt Michael. „Bei minus zehn Grad bist du sonst geliefert.“

Hanning Voigts

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