Was der Friedhof Finkenriek über den Stadtteil erzählt
(aus Hinz&Kunzt 174/August 2007)
Wenn der Wind leise weht und die Luft weder zu warm noch zu kalt ist, erheben sich auf dem Friedhof Finkenriek die Toten aus ihren Gräbern und schlendern den Deich hinauf. Sie stehen dann auf der Deichkrone, blicken auf den Elbstrand, wo die Süderelbe träge Richtung Hafen fließt. Schauen nach links, wo die Autobahn verläuft; blicken nach rechts zur Eisenbahnbrücke, die abgerissen werden sollte, aber dann als Baudenkmal erhalten blieb. Ist etwas zu bemerken von den Veränderungen, die in Wilhelmsburg anstehen?
In Wahrheit bleiben die Toten natürlich liegen, und der Friedhof Finkenriek ähnelt bei Tageslicht vor allem einer großzügigen Parkanlage. „Wir finden hier keine alten, pompösen Familiengruften“, erzählt Friedhofsleiter Bernd Habermann, „die gibt es nur noch drüben in Kirchdorf.“ Denn Finkenriek wurde Anfang der 1950er-Jahre am Reißbrett entworfen: als Ersatz für die Friedhöfe im Wilhelmsburger Zentrum, an der Mengestraße und am Industriebahnhof, die damals in öffentliche Grünanlagen umgewandelt wurden. Vereinzelte Grabsteine stehen dort noch verloren herum. In Finkenriek ist es dagegen selten, dass ein Grab länger als 25 Jahre gepachtet wird.
Der Friedhof wird immer wieder neu belegt, er wird nie alt. „Kann schon sein“, sagt Bernd Habermann, „dass das ein Ausdruck unserer Zeit ist.“ Er zeigt die schmucklosen Sozialgräber. Weist hin auf die Grabsteine mit Nachnamen wie Szymkowiak oder Polcyk und Vornamen wie Renate oder Paul. Nachkommen der polnischen Arbeiter, die ab 1880 nach Wilhelmsburg kamen, als Hafen und Industrie boomten, als sich am Reiherstieg die Wollkämmerei, eine Erdölraffinerie, eine Fabrik für Asbest und Gummi ansiedelte, als die engen Wohnquartiere drum herum bald Klein-Warschau genannt wurden.
Gerade mal zehn Gräber mit türkischen oder arabischen Inschriften finden sich dagegen in einer Ecke versammelt. Und das bei einem Stadtteil, in dem Muslime knapp 30 Prozent der knapp 48.000 Bewohner ausmachen. „Die meisten Menschen, die aus der Türkei kamen und dann bei uns geblieben sind, werden immer noch dort beerdigt“, erzählt Habermann. Und er zeigt in den Himmel, als würde gerade ein Flugzeug vorbeiziehen, mit einem Sarg an Bord. Doch es gibt ein erstes Zeichen, dass dies nicht ewig so bleiben muss – weiter hinten, wo der Friedhof nordwärts ausläuft. Da ist eine Wiese, darauf ein einzelnes Grab, leicht schräg gesetzt. „Da hat jemand das Grab exakt mit dem Kompass Richtung Mekka ausgerichtet“, berichtet der Friedhofsleiter. Es sei überhaupt eine ganz andere Trauerfeier gewesen, voll offen gezeigter Inbrunst und tiefem Schmerz.
Dass es dieses Grab gibt, ist Bayram Inan zu verdanken. Er sitzt für die SPD in der Harburger Bezirksversammlung, aber weit mehr als Sozialdemokrat ist er Wilhelmsburger, aus purer Leidenschaft. Von vielen Landsleuten angesprochen, beantragte er für Finkenriek ein muslimisches Gräberfeld. Er stieß damit keinesfalls auf Zustimmung: „Monatelang hat die Verwaltung das verzögert.“ Dass Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration ihre Eltern hier begraben können, ist für ihn Integration. Inan: „Wenn ich meine Beerdigung hier wünsche, dann bin ich zu 100 Prozent angekommen.“ Und außerdem: „Vielleicht kam die Familie einst aus Ostanatolien. Das sind 3000 Kilometer bis nach Istanbul und von dort noch mal 3500 Kilometer ostwärts. Wie sollen denn die Kinder das Grab ihrer Eltern besuchen?“
Inan fordert außerdem Räumlichkeiten, wo Verstorbene nach islamischem Brauch für ihre letzte Reise vorbereitet werden können. Er hat sich einiges anhören müssen: Dafür würden die Deutschen nun wirklich keine Steuergelder ausgeben wollen. „Moment mal“, sagt er fast zornig, „all die, die wie ich aus der Türkei zum Arbeiten nach Wilhelmsburg gekommen sind, wir haben doch Jahrzehnte Steuern gezahlt, oder?“ Und selbst wenn es mit öffentlichen Mitteln schwierig werden sollte, hat Inan eine Lösung parat: „Mit ein bisschen Einsatz würde ich dafür bestimmt Sponsoren finden.“
Lange war er der einzige Kommunalpolitiker mit türkischen Wurzeln. Bis heute ist er ein gefragter Ansprechpartner, dabei ist seine Sprechstunde nie überlaufen. Er lacht: „Die Leute wissen, wo ich samstagmorgens meine Brötchen hole.“ Dann stehen sie schon da, halten ihren Rentenbescheid in den Händen oder ein Behördenschreiben, und er erklärt es ihnen, während zu Hause die Kinder auf die Brötchen warten. Eines muss er, der 1973 als einfacher Schlosser aus Istanbul kam und heute Ingenieur ist, noch erzählen: „Werde ich gefragt, woher ich komme, sage ich: aus Wilhelmsburg!“ Die Leute würden dann etwas komisch gucken: „Aber ich sage: Doch, doch – aus Wilhelmsburg. Denn ich gehöre hierher, in diese Gesellschaft.“
Weshalb er neulich hellhörig wurde: Die Internationale Bauausstellung wolle nicht nur moderne Häuser bauen, sondern auch Integration fördern. Dann will Bayram Inan wegen des muslimischen Totenwaschhauses dort mal vorsprechen.