Finale der Stadtnotizen im Thalia Theater: Von einem Ikea-Mitarbeiter, der auszog, um in Rumänien sein Glück zu machen
(aus Hinz&Kunzt 172/Juni 2007)
Die „Stadtnotizen“ im Thalia Theater gehen in die fünfte und damit letzte Runde. Ausgerechnet das gemeinhin als langweilig geltende Schnelsen haben sich Regisseur Frank Abt und Dramaturg Benjamin von Blomberg als Finale ausgesucht. Allerdings ist der wahre Protagonist nicht der Stadtteil, sondern Ikea. Für viele ist es mehr als ein banales Möbelhaus – ein Sinnbild für den Wunsch nach Heimat, Familie und Glück.
Freunde von mir, eigentlich voll normale Leute, waren neulich in Frankreich, und als sie auf ihrer langen Fahrt Hunger verspürten, fuhren sie von der Autobahn ab. Aber nicht etwa, um in einem der tollen Bistros am Wegesrand einzukehren, sondern weil sie zu Ikea wollten – zum Frühstück. Ganz wie sie es daheim manchmal machen, in Schnelsen.
Diese Geschichte fand keinen Eingang in die „Stadtnotizen 5“, dieses Projekt im Thalia Theater, in dem sich Regisseur Frank Abt und Dramaturg Benjamin von Blomberg in jeder Folge einen anderen Stadtteil vornehmen. Diese Geschichte brauchten sie auch nicht. Es gibt nämlich auch zig Ikea-Mitarbeiter, deren Dreh- und Angelpunkt der schwedische Möbelriese ist.
Wie immer hatten Abt und von Blomberg den Journalisten Dirk Schneider losgeschickt, der vor Ort Interviews machte, und es gibt einen Dokumentarfilm über Ikea-Mitarbeiter, der die beiden auf Ideen bringt.
Eine von Schneiders Interviewpartnerinnen war Annika Kunert. Die 22-Jährige arbeitet zwar „erst“ seit fünf Jahren bei Ikea, aber schon als sie klein war, fuhren die Eltern mit ihr an so manchem Samstag „nach Schnelsen“, was gleichbedeutend mit Ikea war. Während die Eltern shoppen oder nur gucken gingen, amüsierte sie sich im Kinderland und vor allem im riesigen Bällebad. „Nie war es langweilig“, sagt sie. Unnötig zu sagen, dass ihr Zimmer heute komplett in Ikea eingerichtet ist. Erschwerend kommt noch dazu, dass Annika Kunerts Mutter irgendwann anfing, bei Ikea zu arbeiten. Das Familiengefühl ist perfekt. „Keiner kann sich davon frei machen“, glaubt sie.
Annika Kunerts Identifikation mit dem schwedischen Möbelhaus ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was andere Ikea-Mitarbeiter empfinden. Von einem „Kopf-an-Fuß“-Gefühl ist da in besagtem Dokumentarfilm die Rede. Gemeint ist damit, dass sich die Mitarbeiter in den Anfangsjahren, als noch kein Geld da war, auf Dienstreisen ein Zimmer teilten – und eben Kopf an Fuß schliefen. Oder man singt gemeinsam die Hymne „We are Ikea“. „Das prägt“, sagt ein Mitarbeiter im Brustton der Überzeugung im Film. Oder die Geschichte von dem Ikea-Mitarbeiter, der auszog, um in Russland ein neues Möbelhaus aufzubauen. „Er ist mit Ikea losgefahren und hatte quasi sein Leben im Gepäck“, sagt Dramaturg Benjamin von Blomberg.
Er kommt in Russland an. Noch fühlt er sich nicht allein. So verbunden ist er innerlich mit dem Ikea-Gründer, dass er ihn in jedem Gespräch, das er mit anderen führt, an seiner Seite wähnt. Dann die Enttäuschung: Der Chef kommt zur Eröffnung des Hauses – und der Mitarbeiter, der diesem Termin entgegengefiebert hat, wird gar nicht beachtet, darf nicht einmal an einer Besprechung mit dem geliebten Chef teilnehmen. „Das ist fast eine Liebesgeschichte“, sagt Benjamin von Blomberg. „Für diesen Mann ist eine Welt zusammengebrochen.“
Ein gefundenes Fressen für die Theatermacher. Dieses Heimatgefühl einerseits, diese Identifikation bis zur Selbstaufgabe andererseits sind es, die Frank Abt auf die Bühne bringen will in „Goodbye, Schnelsen!“. In Anlehnung an den Dokumentarfilm soll ein Ikea-Mitarbeiter in Rumänien ein neues Möbelhaus aufbauen.
Gespielt wird dieser Mitarbeiter aus Schnelsen von Ole Lagerpusch. Der hat ganz ähnliche Kindheitserinnerungen an das schwedische Möbelhaus wie Annika Kunert. Ganz aus Flensburg sind seine Eltern mit ihm angereist, um bei Ikea in Schnelsen shoppen zu gehen. „Das gab’s bei uns ja noch nicht“, sagt der 25-Jährige.
Lagerpusch, beziehungsweise der Ikea-Mitarbeiter im Stück, will in Rumänien eine Art Abziehbild seiner Heimat Schnelsen bauen: Ganz identisch soll da alles aussehen, und auch der Umgang untereinander soll so sein wie daheim.
Spannend wird die Geschichte auch durch die beiden anderen Figuren. Seine rumänischen Ikea-Kolleginnen werden von rumänischen Schauspielerinnen gespielt, die wiederum Versatzstücke ihrer echten Biografie einfließen lassen: Als feste Ensemble-Mitglieder in Rumänien verdienen Catalin Baicus und Adela Minae nur 250 Euro im Monat. „Und das, obwohl die Lebenshaltungskosten nicht viel niedriger sind als bei uns“, so Benjamin von Blomberg. Das heißt: Die meisten haben zwei, drei oder mehr Jobs, um sich über Wasser zu halten.
Da gewinnen solche Begriffe wie „Heimat“ und „Glück in Hamburg“ noch einmal eine neue Dimension: Die beiden Schauspielerinnen werden zum Glück bei ihrem Gastspiel in Hamburg mehr verdienen als daheim in Craiova.