Sie sind laut, zappeln herum und stören den Unterricht, lautet das Vorurteil. Warum Jungs in Wahrheit schulisch auf der Strecke bleiben, berichten Petra Neumann und Frank Keil
(aus Hinz&Kunzt 172/Juni 2007)
Schlechte Stimmung, als Marc von der Schule nach Hause kommt. Er ist in der letzten Stunde aus dem Unterricht geflogen; durfte auf dem Flur auf den Pausengong warten. Und das nur, weil er Emmas Federtasche vom Tisch gefegt hat, weil die … Aber das zu erklären, wurde ihm gar nicht erst erlaubt. „Vergiss es“, sagt sein Freund Florian: „Bei uns gibt’s eben Eins-a-Mädchenbevorzugung!“ Als Marcs Mutter nachfragte: „Wirklich?“, verdrehte er nur die Augen: Ja, weiß sie das denn nicht?
Doch was ist dran an solchen Vorwürfen? Schaut man sich ganz nüchtern die Statistik an, muss man den Jungen recht geben: Sie sind auf dem Wege, die Verlierer des heutigen Schulsystems zu werden. Zwei Drittel der Schulabbrecher und drei Viertel aller Sonderschüler sind Jungen. Sie bleiben schneller sitzen, sie bilden die Mehrheit unter den Hauptschülern. Besonders beim Lesen und Texte-Verstehen schneiden Jungen schlechter ab. Eine Schlüsselkompetenz, auf der sich spätere Erfolge aufbauen. Dabei wird bei Mädchen ihr oftmaliges Wohlverhalten jenseits von messbaren Leistungen belohnt. Die KESS-Studie Nr. 4, die die Leistungen von Schülern in der 4. Klasse untersuchte, zeigte: Mädchen bekommen bei gleichen Testergebnissen eher eine Gymnasialempfehlung für die 5. Klasse als Jungen. Unter 100 Abiturienten finden sich am Ende 54 Mädchen und 46 Jungen. Ganz düster sieht es für Jungen mit Migrationshintergrund aus: Ein Viertel verlässt die Schule ohne Abschluss. Tendenz in allen Fällen steigend.
Und das fällt niemandem auf? Als Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig neulich die KESS-Studie Nr. 7 über die Leistungen von sechsten und siebten Klassen vorstellte, die belegte, dass die Mädchen in Mathematik und Rechtschreibung deutlich besser seien, meinte sie ratlos: „Die Jungen wurden auf dem Weg der Mädchenförderung irgendwo unterwegs vergessen.“ Etwa so, wie einem manchmal ein Apfel aus dem Fahrradkorb hüpft, wenn man über Kopfsteinpflaster radelt?
Brave Jungs sind Weicheier
Viele Pädagogen sehen eine Ursache für diese Entwicklung darin, dass Jungen überwiegend in einer rein weiblichen Welt aufwachsen. Auch hier ein paar Zahlen: Nach Angaben der Sozialbehörde sind 92 Prozent aller in Kindertagesstätten Beschäftigten Frauen. 102 Tagesvätern stehen 2251 Tagesmütter gegenüber. „An Grund-, Haupt- und Realschulen unterrichten 1000 männliche und 4000 weibliche Lehrkräfte. An Gesamtschulen unterrichten 1100 männliche und 1700 weibliche Lehrkräfte“, listet nüchtern der Fachreferent Thomas Albrecht von der Hamburger Schulbehörde die dortigen Zahlen auf. Nur bei den Gymnasien sei das Verhältnis von Lehrern und Lehrerinnen ausgewogen.
Dabei wäre es gerade am Anfang wichtig, dass den Jungen Männer zur Seite stehen. „Mädchen haben viele Rollenmuster, die positiv bewertet werden“, so Albrecht: „Tragen sie ein rosa Kleidchen, sind sie süß. Ist am nächsten Tag die Hose zerrissen, sind sie selbstbewusst und emanzipiert. Brave Jungs sind Weicheier und freche Jungs haben eh nur Ärger. Sie brauchen männliche Vorbilder, an denen sie sich aber auch reiben können.“ Ein Job also für die Väter. Müssten sie nicht ohnehin längst wie ein Mann aufspringen und ihren Söhnen zur Seite stehen? Ein Blick auf einen ganz normalen Elternabend zu Beginn der Grundschulzeit genügt: Die Väter sind schon zahlenmäßig in der Minderheit. „Anfangs gibt es durchaus einzelne Väter, die sich engagieren, aber bald werden es immer weniger“, beschreibt der Vorsitzende der Hamburger Elternkammer Holger Gisch die Situation.
„Männer haben es verschlafen, etwas für ihr Geschlecht zu tun“, sagt auch Antje Vogt-Hechinger, Mutter von zwei Jungen im Alter von acht und elf Jahren. „Die kleinen Jungs strampeln sich ab und werden trotzdem von den Frauen einfach in ein Schema gepresst.“ Jungs gelten zu schnell als Störenfriede. „Mein Sohn hatte mit Papierkügelchen auf ein Mädchen geschnipst. Dafür gab es sofort einen Brief an uns Eltern nach Hause. Ich hab gedacht, na ja … klar, das stört den Unterricht, aber gleich einen Brief an die Eltern schicken …?“
Einfach ins Schema gepresst
Während einerseits mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, werde auf der anderen Seite übertriebene Rücksicht genommen. Als sich nämlich einmal eines der Mädchen auf dem Klo eingeschlossen habe, nur weil sie sich mit ihrer Freundin über den Namen eines Pferdes gestritten habe, hätten auch noch alle das Mädchen bedauern müssen. Obwohl das den Unterricht viel mehr gestört habe.
In vielen Fällen sind es die Mütter, die sich für die kleinen Männer stark machen. Eine ungewohnte Rolle. „Ich wollte es lange gar nicht wahrhaben, dass es wirklich gravierende Unterschiede gibt zwischen Jungen und Mädchen“, erzählt Marcs Mutter. Erst nach und nach sei ihr aufgefallen, wo überall der Bewegungsdrang der Jungen eingeschränkt werde. „Es sind scheinbare Kleinigkeiten: nicht mit einem harten Ball Fußball spielen, nicht über den Schulhof rennen und nur reden, wenn man ausdrücklich drangenommen wird.“
Die Summe macht es, dass den Jungs immer mehr die Schule verleidet wird. Und Marcs Mutter setzt hinzu: „Die Benachteiligung von Jungen ist ein Tabu unter den Eltern.“ Mittlerweile unterteilt sie die Elternschaft so: in Jungsmütter und Mädchenmütter. Die einen seien froh, dass Disziplinen wie Stillarbeit, Zuhören und die ständige Verschriftlichung von Unterrichtsstoffen ihren Töchtern entgegenkämen; die anderen betrachten mit Sorge, dass ihre Söhne nur noch als Störenfriede und Zappelphilippe gesehen werden. Zum Schluss hat Marc noch eine Geschichte parat: Neulich hätte es in seiner Klasse eine Vertretungsstunde gegeben. Sport. Keiner hatte Sportschuhe mitgehabt. Und die Mädchen fanden es einfach nicht zumutbar, auf ihren hübschen Füßen barfuß durch die Halle zu laufen. Also wurde ein Film geguckt: „Andersrum hätte das natürlich nicht geklappt.“
Marcs Mutter kann über solche Anekdoten durchaus lachen. Aber insgesamt fällt ihr Resümee düster aus: „Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn eines Tages die Schule durch ist und unser Sohn sie halbwegs heil überstanden hat.“
„Jungs kriegen mehr Mecker“
Rafael Walter, 12, geht in die 6. Klasse am Gymnasium Oldenfelde und sagt: „Mädchen werden bevorzugt. Die Lehrer sind fast immer auf der Seite von den Mädchen. Uns meckern die Lehrer viel öfter an, weil wir auch mehr machen und auch mal was sagen, wenn uns was nicht gefällt. Die Mädchen sitzen meistens ruhig in der Ecke und sagen gar nichts.
Bei den Noten ist es so, dass wir generell die schlechteren Noten im Mündlichen haben, dabei beteiligen wir uns viel mehr am Unterricht. Na gut, wir rufen auch mal so was in den Raum. Aber das ist doch besser, als gar nichts zu sagen, oder? Und wenn sich zum Beispiel drei Jungs melden, dann nimmt der Lehrer keinen von uns dran, sondern wartet, bis sich auch ein Mädchen meldet und die kommt dann dran und wir haben uns umsonst gemeldet.
Jungs sind eben wilder, das ist auch auf dem Pausenhof so. Da kämpfen wir auch mal, aber das sind dann so Spaßkämpfe. Manchmal sagen die Lehrer dann auch nichts dazu. Aber insgesamt sollten sie unparteiischer sein, wie ein Schiri beim Fußball, der darf auch keinen bevorzugen.“
Kreative Krachmacher
Bolzen, Raufen, Rangeln – an welcher Schule gibt es denn so was? Einer der wenigen Schulleiter in Hamburg, der typisches Jungsverhalten ausdrücklich begrüßt, ist Klaus Pax. Er ist Leiter der Katholischen Grundschule Farmsen und sagt: „Mir ist es ein Anliegen, auf die Lernbedürfnisse von Jungs besonders zu achten. Wir erwarten als Lehrer zu oft ein mädchentypisches Verhalten von den Jungs. Mädchen sind in der Mehrzahl angepasster und diplomatischer in der Schule. Da haben wir Lehrer es erst einmal leichter. Dabei sind die angeblichen Störenfriede häufig sehr befruchtend für den Unterricht, es sind oft die kreativen Köpfe. Hinzu kommt, dass wir einen sehr frauenlastigen Berufsstand haben. Das Gehalt eines Grundschullehrers lockt nicht unbedingt die Männer in unseren Beruf.
Ich bemühe mich daher zumindest für unser Nachmittagsangebot Männer zu gewinnen. Ziel ist es, den Unterricht jungengerechter zu machen. Der Technikunterricht sollte nach dem Willen der Schulbehörde in den Sachunterricht aufgehen. Wir haben das nicht gemacht, weil dieses jungstypische Fach dann wieder völlig vertextet wird, was vielen Jungs das Lernen erschwert. Technik bleibt ein eigenes Fach bei uns. Handwerkliches Arbeiten braucht seinen Raum. Das heißt natürlich nicht, dass bei uns Mädchen ausgeschlossen werden. Die Mädchen machen all diese Dinge genauso mit wie die Jungs. Aber es ist falsch, nur die eine Gruppe zu Lasten der anderen zu fördern. Momentan bleiben Jungs häufig auf der Strecke.
Was gerade Jungs unbedingt brauchen, sind mehr Möglichkeiten, sich im Unterricht zu bewegen. Manchmal kann das so aussehen, dass man sagt, sucht euch mal euren Lieblingsplatz in der Klasse! Das kann dann auch unter dem Tisch sein. Das ist egal. Und nach dieser Tobephase macht man umso konzentrierter weiter Mathematik.
In gewissem Umfang muss man als Lehrer auch Aggressionen ihren Raum lassen. Warum sollte man nicht im Sportunterricht mal sagen: Wir machen jetzt nicht Seilspringen, sondern Raufen. Ein beherzter Körperkontakt muss erlaubt sein. Lehrer haben leider oft Angst, dass solche Situationen außer Kontrolle geraten, dass sie nichts mehr steuern können. Aber der scheinbar leichtere Weg ist nicht automatisch der bessere.“