Der ungewöhnliche Kontakt zwischen Behinderten in Hamburg und St. Petersburg
(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)
Wohnanlage Am Frankenberg in Harburg, ein lichtdurchflutetes Zimmer im dritten Stock. Regina Köbnick (49) sitzt im Rollstuhl am Tisch und hält einige Briefe in der Hand. Ihr Mitbewohner Peter Alles (27) kommt dazu, klemmt seinen Blindenstock in einer Halterung am Tisch fest und breitet Geschenke aus, die er bekommen hat: Holztiere zum Zusammensetzen, gestrickte Handschuhe, Bilder.
Köbnick und Alles haben Brieffreunde in St. Petersburg: Vitalij Kolusajev und Raja Prusova. Sie leben im „Psycho-Neurologischen Institut Nr. 3“, einem Behindertenheim mit mehr als 1000 Menschen in Peterhof, außerhalb der Stadt.
Die Partnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg, die vor 50 Jahren auf offizieller Ebene begann, ist längst bei den Bürgern angekommen. Mehr als 30.000 Freundschaften seien entstanden, schätzt der Senat. Darunter auch solche, die unmöglich erscheinen, wie der Briefkontakt zwischen dem blinden Peter Alles und der taubstummen Raja Prusova. Sie zeigen: Auch mit Handicaps ist Verständigung möglich, wenn viele mithelfen.
Peter Alles war 18 und stand kurz vor dem Abitur, als er einen Autounfall hatte. Er saß allein im Wagen. Er weiß nicht, was passiert ist. Er überlebte mit einer Schädel-Hirn-Verletzung. Seitdem ist er blind, spricht langsam, behält weniger. Seit vier Jahren lebt er in der Wohngruppe Am Frankenberg der Behindertenhilfe Hamburg (BHH). Für das Interview heute hat er Ergotherapie und Schwimmen abgesagt. Montags geht er einkaufen, dienstags in die Bücherhalle, jeden zweiten Mittwoch ins Internetcafé, um zu mailen – jeweils begleitet von BHH-Mitarbeitern.
Regina Köbnick lebt seit sieben Jahren in der Wohngruppe. Nächstes Jahr wird sie 50, auf die Party freut sie sich schon jetzt. Regina Köbnick hat eine fortschreitende Behinderung, dem Muskelschwund ähnlich. Inzwischen kann sie nicht mal mehr ihren Rollstuhl selbst bewegen. Ihre Worte sind schwer zu verstehen, aber als sie von der Werkstatt erzählt, wo sie Verbandskästen für Autos packt, ist die Botschaft klar: Sie lacht, ihre Stimme jubelt – der Job tut ihr gut.
Menschen mit Behinderung zu integrieren und zu fördern ist in Deutschland nichts Neues. In Russland schon. Ein Beispiel ist das Behindertenheim in Peterhof, 30 Kilometer von St. Petersburg entfernt. Zu Sowjetzeiten war der Komplex eine geschlossene Verwahranstalt – Behinderte galten als nicht entwicklungs- und bildungsfähig. Inzwischen sind die meisten Abteilungen offen, aber viele Bewohner leben ohne Privatsphäre noch in Sechzehner-Zimmern, die Flure sind düster, es fehlen sanitäre Anlagen, Anregung und Beschäftigung. 2005 startete ein zweijähriges Projekt mit EU-Mitteln, um zumindest für 75 Bewohner die Bedingungen zu verbessern – durch Umbauten, Qualifizierung des Personals und individuelle Betreuung.
Ein Projektpartner auf deutscher Seite ist die Behindertenhilfe Hamburg. Zunächst reisten Führungskräfte hin und her. Dann hospitierten Mitarbeiter. Und dann sagte Regina Köbnick in der Wohngruppe Am Frankenberg einfach: „Ich möchte auch jemanden aus St. Petersburg kennenlernen.“
Sie formuliert einen Brief und stellt sich vor. Mitarbeiterin Alexandra Borowski übersetzt ihn ins Russische. Kollegen aus Peterhof nehmen ihn mit. Das ist im Oktober 2005. Noch vor Weihnachten liegt Post im Kasten: von Vitalij Kolusajev, 39 Jahre alt, Rollstuhlfahrer, von Geburt an spastisch gelähmt. Regine Köbnick ist aufgeregt. Sofort soll Alexandra Borowski den Brief vorlesen, gleich hier, am Wohnzimmertisch. So kommt es, dass Peter Alles zuhört. Und anschließend sagt: „Das möchte ich auch.“
Er schickte seinerseits einen Brief los, mit der Bitte, dass die Mitarbeiter in Peterhof einen Kontakt vermitteln. Ein paar Wochen später ist Antwort da: von der 23-jährigen Raja Prusova, die taubstumm ist. Sie teilt sich mit Zeichen und Gebärden einer Betreuerin mit, die den Brief auf Russisch aufschreibt. In Harburg übersetzt ihn Alexandra Borowski ins Deutsche und liest ihn Peter Alles vor. Komplizierter kann Kommunikation kaum sein. Doch Peter Alles nimmt es pragmatisch. Er wiegt den Kopf vor und zurück und sagt mit seiner langsamen Aussprache: „Brieffreundin ist Brieffreundin.“
Alle paar Wochen gehen Briefe hin und her. Vitalij Kolusajev schickt eigene Gedichte. Raja Prusova legt Geschenke bei: Holzfiguren, die in einer neuen Werkstatt in Peterhof entstanden sind; Ausmalbilder, die ihr Brieffreund aber gar nicht sehen kann. Und sie hat ihm Bettsocken gestrickt, die er gerne trägt. Peter Alles wundert sich: „Woher wusste sie die richtige Größe?“
Anfang des Jahres waren die russischen Brieffreunde und drei weitere Bewohner aus Peterhof zu Besuch in Harburg. Sie lernten das Leben in den Wohngruppen kennen und nahmen an einer Tagung der Behindertenhilfe teil. Regina Köbnick strahlt: „Das war toll.“
Peter Alles und Raja Prusova waren plötzlich nicht mehr auf die lange Kette von Übersetzungen angewiesen: Sie konnten einander mit den Händen berühren. Ein Foto zeigt sie umarmt nebeneinander sitzen.
Die Begegnung der Bewohner ist inzwischen ein eigenes Projekt, das noch bis Ende des Jahres läuft. Eine Neuerung haben sich die Peterhof-Bewohner in Hamburg schon abgeguckt: Sie haben in ihrer Abteilung Sprecher gewählt.
Mitte Mai gibt es ein Wiedersehen: Dann fliegen Köbnick, Alles und vier weitere Bewohner nach St. Petersburg. Um etwas gegen Flugangst und Aufregung zu tun, hat sich Regina Köbnick neulich am Flughafen umgesehen. Peter Alles, der als Jugendlicher schon geflogen ist, sagt mit trockenem Humor: „Das wird mein erster blinder Flug.“
In St. Petersburg werden ihre Brieffreunde warten. Raja Prusova trägt seit ihrem Besuch in Hamburg einen silbernen Freundschaftsring mit Stein. Peter Alles hat ihn ihr geschenkt.