Mit Zottelfell und Kulleraugen

Am Öjendorfer See therapieren Alpakas Kinder und Erwachsene

(aus Hinz&Kunzt 170/April 2007)

Normalerweise streifen sie mit ihrem dichten Wuschelpelz durch die südamerikanischen Anden, schleppen schwere Lasten und liefern hochwertige, sehr feine Wolle. Am Öjendorfer See in Hamburg haben die zotteligen Alpakas mit den überlangen Hälsen und braunen Kulleraugen eine ganz andere Aufgabe: Sie helfen missbrauchten, behinderten oder verhaltensauffälligen Kindern und kranken Erwachsenen. Mit ihrem freundlichen, geduldigen Wesen schaffen es die lamaähnlichen Tiere, dass Zweibeiner wieder besser und gesünder im Leben stehen.

So wie im heißen Florida die Delfine werden hier im kühlen Norden Alpakas in einem bundesweit einmaligen Vorzeigeprojekt zur tiergestützten Therapie eingesetzt. Wo herkömmliche Behandlungen nicht weiterkommen, verspricht der Hamburger Verein zur Förderung der Alpaka-Therapie Hilfe.

Friedlich und ständig kauend grasen Bandit (5) und Condor (7) auf der Koppel. Die beiden „Therapakas“ warten auf ihren nächsten Patienten. Auf dem Beifahrersitz neben seiner Mutter fährt Jurek (14) auf den Hof und kann es kaum abwarten, aus dem Auto zu steigen. Aufgeregt läuft der schlaksige Junge zu den Tieren, nimmt die Leine von Condor in die Hand und will mit dem dunklen Wallach spazieren gehen. Der Junge glaubt, er sei Alpaka-Führer. Er soll nicht wissen, dass er hier in Therapie ist. Schon das Wort macht ihm Angst. Zu oft war er in Behandlung. Arztpraxen, weiße Kittel, Spritzen, Fragen … Auf dem Vereinsgelände bekommen seine angeschlagene Seele und sein kranker Körper eine ganz andere Medizin.

Jurek ist seit seiner Geburt geistig und körperlich behindert – entwicklungsverzögert. Wegen einer Immunschwäche muss er außerdem alle vier Wochen zur Infusion. Ein stilles, unauffälliges Kind. Das wurde ihm an seiner Schule zum Verhängnis: Mehrmals missbrauchte ein älterer Schüler den Jungen sexuell auf der Toilette und drohte: „Wenn du darüber sprichst, passiert was!“ Jurek wurde immer stiller, immer ängstlicher, zog sich mehr und mehr zurück. Lange dauerte es, bis seine Mutter Sabine Weber (46) herausbekam, was los war. Noch viel länger dauerte die Odyssee durch Behörden, Institutionen und Psychologenpraxen, bis sie endlich mit finanzieller Unterstützung vom Weißen Ring – der Organisation für Gewaltopfer – bei den Alpakas einen Therapieplatz für Jurek bekam.

„Der erste Kontakt mit den Tieren war eine Katastrophe“, erinnert sich die Mutter, „Jurek hatte solche Angst, wollte nicht mal aus dem Auto steigen.“ Aber schon das zweite Treffen klappte besser. Jurek gewann Vertrauen zu den ruhigen Kuscheltieren und dem Ergotherapeuten Marco Wenzlaff (27), der wie ein Freund immer dabei ist. Inzwischen macht der Junge seine dritte Therapieeinheit über zehn Stunden. Die Stunden mit den Tieren gehören zu seinen schönsten Erlebnissen. Er bürstet, füttert und umarmt sie, schmiegt seinen Kopf vertrauensvoll in ihr weiches Fell und fühlt sich großartig, wenn er sie durch den nahen Park oder auf dem Parcours über Rampen, Wippen und andere Hürden führt.

Jurek ist selbstbewusster geworden, offener, weniger ängstlich. Er spricht wieder mehr, traut sich kleine Entscheidungen zu und bleibt auch mal eine Stunde allein zu Hause. „Er ist richtig gewachsen und sehr stolz, weil er etwas weiß und kann, was andere nicht können: mit Alpakas umgehen“, sagt seine Mutter. Auch Jureks Lehrer bestätigen: Er kann sich viel besser konzentrieren. „Mit der Alpaka-Therapie ist für mein Kind eine gute Grundlage gelegt worden“, meint die alleinerziehende Mutter.

Die Liste dessen, was Kinder und Jugendliche mit Hilfe der vierbeinigen Kotherapeuten lernen und erfahren, ist lang. Marco Wenzlaff erklärt: „Durch den Umgang mit den Tieren gewinnen sie Selbstvertrauen, haben eine bessere Selbstwahrnehmung, lernen sich durchzusetzen, erleben körperlichen Kontakt positiv und lassen Nähe zu.“ Mit der Leine in der Hand übernehmen die Patienten Verantwortung, üben Konsequenz. Und ganz nebenbei, für die Betroffenen fast unbemerkt, kommt der begleitende Therapeut auf zwei Beinen ins Gespräch mit den Jugendlichen.

Die tiergestützte Therapie ist eine alternativ-medizinische Behandlung: Wo Ärzte und Psychologen nicht weiterkommen, öffnen die Tiere eine Tür. Sie fragen nicht, bewerten nicht, sind geduldig, geben urteilsfrei Zuneigung – und ein Stück Selbstwertgefühl zurück. Zudem haben sie positiven Einfluss auf Herz, Kreislauf sowie Gedächtnis und lösen Verkrampfungen. Längst gehören Therapiehunde zu festen „Einrichtungen“ in vielen Alters-, Kinder- und Behindertenheimen, werden eingesetzt in psychologischen Kliniken. Aber auch Pferde, Lamas, Alpakas und Delfine arbeiten als Alternativdoktoren.

EDV-Fachmann Mathias Feindert (41) und seine Partnerin, Kauffrau Birgit Viett (41), haben die erste deutsche Alpaka-Therapie ins Leben gerufen, nachdem sie sich in Florida von der erfolgreichen Arbeit mit Delfinen überzeugt hatten. Aus der Sicht der beiden Hamburger ist die nur „viel zu teuer und viel zu weit weg“. Birgit Viett: „Wir wollten Behandlungsmöglichkeiten schaffen, die sich normale Leute vor Ort leisten können. Alpakas eigenen sich von ihrem Wesen her hervorragend. Es sind sehr soziale Tiere, sie sind gutmütig, ausdauernd und suchen den Kontakt zu Menschen.“ Und: Im Gegensatz zur unnatürlichen Haltung der Delfin-Therapeuten in künstlichen Wasserbecken ist bei den „Therapakas“ artgerechte Haltung möglich.

Zusammen mit Psychologen und einem wissenschaftlichen Beirat entwickelten die beiden Hamburger ein Konzept und gründeten den Verein. Von einem einmaligen Besuch bis zur Langzeittherapie ist alles möglich. Gemeinsam mit dem Therapeuten wird ein Behandlungsplan festgelegt und dokumentiert. Die Kurzzeittherapie – über 14 Tage täglich eine Stunde – kostet etwa 1600 Euro, ein Zehntel der Delfintherapie. Bedürftige Familien bezuschusst der Verein, unter bestimmen Voraussetzungen übernehmen auch Stiftungen die Kosten oder Krankenkassen zumindest die Therapeuten-Honorare.

Susanne Rückstein

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