Die ständige Vertretung der Straßenkinder hatte im September zum Straßenkinderkongress nach Berlin geladen. Zwei Hinz&Künztler waren mit dabei. Redakteur Jonas Füllner hat sie begleitet.
(aus Hinz&Kunzt 273/November 2015)
Ein wenig nervös klammert sich Lucas oben auf der Bühne an sein Manuskript. Alle Augen und Kameras sind auf ihn gerichtet. Der 20-Jährige blickt noch einmal ins Publikum, nickt einem Bekannten zu, dann fängt er an, begrüßt die Gäste und eröffnet die Straßenkinderkonferenz in Berlin-Wuhlheide.
Auf der Bühne zu stehen, das sei er tatsächlich nicht gewohnt, hatte er kurz vor seinem großen Auftritt noch im Interview erklärt. Dass der ehemalige Obdachlose allerdings ein guter Redner ist, merkt man schnell. Ein Redner mit Organisationstalent. Denn zusammen mit etwa 30 anderen jungen Erwachsenen hat er vor zwei Jahren die ständige Vertretung der Straßenkinder gegründet, einen politischen Verbund von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die alle obdachlos sind oder es mal waren.
Lucas lebt in einer WG. Und wenn er sich nicht gerade mit Politik beschäftigt, dann organisiert er sein Leben. Das mit dem Leben falle ihm deutlich schwerer, räumt Lucas bereitwillig ein. Dass ihm so etwas Probleme bereitet, mag man „Es hilft zu wissen, dass man nicht alleine ist“ kaum glauben, wenn man ihn so souverän dort oben auf der Bühne stehen sieht.
Unten im Publikum, zwischen den etwa 150 Straßenkindern und den fast ebenso zahlreichen Sozialarbeitern und Helfern, steht auch Manuela Schwesig. Die Familienministerin ist der Stargast des Kongresses. An sie wendet sich Lucas, während er von überforderten Mitarbeitern im Jugendamt berichtet, die Bestrafungssysteme in der Jugendhilfe kritisiert und sich für „Housing First“ einsetzt. Ein Ansatz aus den USA, bei dem Obdachlose sofort eine Wohnung erhalten, ohne Umwege durch andere Einrichtungen, und trotzdem betreut sind. „Wie viele aber müssen wir noch werden, damit wir wahrgenommen werden?“, fragt Lucas.
Insgesamt gebe es 7000 bis 8000 jugendliche Obdachlose. Darüber hinaus würden etwa 30.000 junge Erwachsene bundesweit auf der Straße leben. Nicht eingerechnet die wachsende Zahl unbegleiteter, junger Flüchtlinge. „Wir gemeinsam, die Flüchtlingskinder und Straßenkinder, suchen nach einem Zuhause, nach Schutz und Geborgenheit“, sagt Lucas und erntet nicht nur Applaus aus dem Publikum, sondern auch Zustimmung der Ministerin. Die räumt anschließend in ihrer Rede ein: „Straßenkinder hatte die Politik nicht gut auf dem Schirm. Ihr habt euch zu Recht darüber beschwert.“ Deswegen sei es ihr ein Anliegen, mit den Jugendlichen im Gespräch zu bleiben. Zum Beispiel über die Idee des Housing First, die Manuela Schwesig als vielversprechend bezeichnet.
„Ich finde es richtig, dass Lucas auch die Probleme der Flüchtlingskinder angesprochen hat“, sagt Daniel. Der 27-jährige Hinz&Künztler ist als Gast aus Hamburg angereist. Er ist kein großer Redenschwinger, ist aber durchaus politisch aktiv: „Am Hauptbahnhof haben wir Flüchtlinge bei der Weiterreise nach Schweden unterstützt.“ Durch einen Aushang in den Hinz&Kunzt-Vertriebsräumen erfuhr er von dem Straßenkinderkongress. „Neue Leute treffen und alte Gesichter wiedersehen“ wären die Gründe gewesen, warum er mit nach Berlin wollte. Daniel hat immer wieder Platte gemacht. Auch jetzt wieder. „Im Pik As musste ich nach zwei Wochen wieder raus“, sagt der gebürtige Emdener, der seit einiger Zeit versucht, in Hamburg Fuß zu fassen. In Drückerkolonnen zog er von Tür zu Tür und versuchte den Leuten Abos anzudrehen. „Anfangs lief es gut“, sagt Daniel. „Aber dann hat mich der Chef übers Ohr gehauen.“ Plötzlich gab es kein Geld mehr. Ein Arbeitsvertrag? Fehlanzeige. So landete Daniel bei Hinz&Kunzt.
Noch am späten Abend beteiligt er sich mit anderen an den Diskussionsrunden. „Das Jugendamt und ich“, „Gesetzeskonflikte“ und „Wie will ich wohnen?“ lauten die Themen. Viele neue Anregungen hätte er mitgenommen, sagt Daniel, der mit seinen 27 Jahren schon ein Veteran unter den Straßenkindern ist. Nette Gespräche helfen aber auch ihm nicht. Daniel will schnell wieder weg von der Straße: „Hoffentlich bekomme ich jetzt im Winter einen Festplatz im Pik As.“
Diese Nacht wird er zumindest ein Dach über dem Kopf haben. Die große Turnhalle im Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide dient als Tagungs- und Übernachtungsort für den Kongress. Und statt ein strammes Programm zu absolvieren, werden sich die Kids später in offenen Diskussionen austauschen. Jetzt, am Nachmittag, wirkt alles geordnet. Es gibt Anmeldelisten, ein Versorgungszelt für das Essen und Kaffee statt Alkohol. Nicht unbedingt so, wie man sich die Zusammenkunft zahlreicher junger Obdachloser vorstellen würde.
Bis es plötzlich während Lucas’ Rede draußen laut wird. Der zweite Hamburger Bus ist angekommen. Fast alles Punker. Freudig und lautstark werden sie von den Anwesenden begrüßt. Man kennt sich. Sei es von der ersten Straßenkonferenz vor zwei Jahren oder weil man irgendwo in der Republik bereits gemeinsam „Platte“ gemacht hat. Mit dabei: Hinz&Künztler Rico. Der 24-Jährige wuchs im Heim auf. Regeln waren nie sein Ding. Mit 14 Jahren fing alles an, erzählt Rico. Punkrock, Kiffen, Alkohol und Konzerte. „Und am Wochenende kam ich – wenn überhaupt – nachts viel zu spät und besoffen zurück.“ Rico flog aus dem Heim, landete auf der Straße. Acht Jahre ist das her. „So lange bin ich vogelfrei“, sagt Rico, grinst und räumt aber auch ein: „So ’ne Punkerplatte, nee, das ist nix mehr für mich.“
Stattdessen macht Rico auf dem Kiez Platte. Dort kennt er sich aus, weiß, an welchem Tresen er bei Kälte seinen Kopf für ein, zwei Stunden ablegen kann. Tagsüber schaut er gelegentlich beim „Kids“, der Anlaufstelle für Straßenkinder, vorbei. Er trägt Verantwortung und kümmert sich daher auch abends um eine Freundin, bei der durch die Diskussionen auf dem Kongress schlimme Kindheitserinnerungen wieder hochgespült werden. „Irgendwie halten wir alle zusammen“, sagt Rico. „Alleine schafft man das nicht.“
Text: Jonas Füllner
Fotos: Martin Kath