Wer sind die Menschen, die in unserer Stadt unter Brücken leben? Die Fotografin Lena Maja Wöhler hat einige von ihnen getroffen. Heute im Porträt: Bernah (70) aus Polen, der unter der Kennedybrücke lebt.
(aus Hinz&Kunzt 273/November 2015)
Zeltlager unter der Kennedybrücke: Ein älterer Mann, von dem nur der Oberkörper aus einem Zelt schaut, isst einen Joghurt. Wir schauen uns neugierig an, und ich bleibe stehen. Der Anblick des Zeltes mit der strukturierten Ordnung eines Zuhauses fasziniert mich, ebenso wie sein Bewohner. Blumenzwiebeln stehen in einem Topf, daneben, ordentlich, ein Paar Sandalen.
Ich möchte dem Mann nicht das Gefühl geben, eine Schaulustige zu sein, die einfach ein Foto von seinem Zuhause macht. Ich sage „Hallo“, was er gleich darauf erwidert. Ich frage ihn, ob ich ein Foto machen darf und zeige auf meine Kamera. Er nickt und legt den Joghurt beiseite.
Anschließend gehe ich zögerlich zu ihm. Ich biete ihm etwas von meinem Tabak an. Er nimmt das ganze Päckchen und steckt es in seine Hosentasche. Ich versuche unbeholfen, das Missverständnis aufzuklären. Sein Deutsch ist gebrochen, und als er versteht, lacht er und gibt mir den Tabak zurück. Auch ich muss lachen, jedoch mehr über mich und meine unbeholfene Art. Dann steht er auf, nimmt seine Angel und setzt sich ans Ufer. Ich setze mich still neben den Fremden ans Wasser. Sein Name ist Bernah.
Abendbrot aus der Alster
Begeistert schaue ich zu, wie er seelenruhig die Angel auswirft. Immer wieder. Er beginnt in einer Deutsch-Englisch-Polnisch-Sprache mir zu erzählen, dass er jeden Tag sein Abendbrot hier fängt. Ich staune und nehme bereitwillig die Rolle der Zuhörerin ein. Ab und an stelle ich eine Frage und fühle, dass hier unter der Bücke nicht oft gefragt wird: „Wie geht es Dir?“
Bernah kommt aus Polen und ist dieses Jahr 70 geworden. Sein Rücken ist der Körperteil, der sich am meisten gegen das Zelten sträubt. In Hamburg sucht er Arbeit. Er ist gelernter Kirchenrestaurator. Doch meistens ist es nur eine Tagesbeschäftigung auf einer Baustelle, die sich ihm bietet.
Alles verstehe ich durch die Sprachbarriere nicht, doch seine tiefen blauen Augen füllen diese Lücken. Er erzählt mir, dass er schon seit vielen Jahren mit den Jahreszeiten durch Europa reist. Meinen Augen werden bei der Aufzählung der vielen Länder immer größer.
Erst am Ende unserer Unterhaltung erfahre ich, dass er einst alles verloren hat. Seine Frau und seine Kinder sind bei einem Unglück verstorben. Seitdem hält er es an einem Ort nicht mehr lange aus. Er mag das Gefühl eines „Zuhauses“ nicht. Zu sehr schmerzt die Vorstellung, es wieder zu verlieren. Die Frage, ob er sich trotzdem danach sehnt, stelle ich nur mir selbst und beantworte sie mir mit dem Bild von den liebevoll positionierten Blumenzwiebeln vor seinem Zelt.
Text und Foto: Lena Maja Wöhler
Update 21.4.16: Dieses Foto ist bei den INSP-Awards in der Kategorie „Bestes Foto“ nominiert worden. Alle Nominierten unter http://insp.ngo/insp-awards-best-photo-nominees/
Hamburgs Winternotprogramm
Vom 1. November bis 31. März läuft das Winternotprogramm. 890 Plätze stehen zum Start bereit: Auf dem Schulhof neben dem Kollektiven Zentrum (KoZe) in der Münzstraße gibt es 400 Schlafplätze in einem Gebäude und in Wohncontainern. In einem ehemaligen Verlagshaus am Schaarsteinweg sind 350 Plätze eingerichtet. Die Einrichtungen sind täglich von 17 bis 9 Uhr geöffnet, tagsüber sind sie geschlossen. Hinzu kommen 140 der besonders begehrten Containerplätze, die in Kirchengemeinden, der Hochschule für angewandte Wissenschaften und bei der Evangelischen Hochschule für Sozialpädagogik beim Rauhen Haus stehen. Trotz Erhöhung der Kapazitäten werden die Plätze nicht ausreichen: Die Diakonie schätzt die Zahl der Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, auf 2000.
Mehr Porträts finden Sie in der November-Ausgabe von Hinz&Kunzt – ab 30. Oktober auf Hamburgs Straßen zu haben!