Voll entblößt

Jugendredakteur Philipp Runge traf sich mit einem bekennenden Exhibitionisten

(aus Hinz&Kunzt 168/Februar 2007, Jugendausgabe)

Boris (33, Name geändert) ist verheiratet und von Beruf Maschinenführer. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Typ, mit einer kleinen Besonderheit: Er ist Exhibitionist. In einem Internet-Forum kennengelernt, traf ich mich mit ihm in Bielefeld. Mich interessierte, wie ein Exhibitionist mit seinem Drang umgeht, wie er denkt und ob er sieht, dass er Probleme hat und anderen Probleme bereitet.

Hinz&Kunzt: Wie fühlen Sie sich dabei, interviewt zu werden?


Boris:
Gut, aber ungewöhnlich. Es ist das erste Mal. Ungewöhnlich ist, dass Journalisten mit Exhibitionisten sprechen, aber gut! Vielleicht hilft es, die Sache ein bisschen zu entkriminalisieren.

H&K: Ab wann hat sich gezeigt, dass Sie zu Exhibitionismus neigen?


Boris:
Das ist eine sehr gute Frage, die ich mir auch schon mal gestellt habe. Erstaunlicherweise können das wenige Leute genau sagen. Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist bei der Bundeswehr. Ich war im Krankenhaus in einem Behandlungszimmer und musste mich ausziehen. Da stand ich nackig, und es kam eine Arzthelferin rein. Alle anderen waren weg. Das war natürlich eine sehr geile Situation, die jeder Exhibitionist gerne hat. Und ich glaube, wenn es vorher noch nicht so war, dann war es wahrscheinlich der Auslöser. Die Neigung wird wahrscheinlich irgendwo früher angelegt sein. Meine Kindheit war aber ganz normal, keine Besonderheiten.

H&K: Woran haben Sie gemerkt, dass Sie Exhibitionist sind?


Boris:
Es gibt mir Befriedigung. Das ist eben der Kick. Denn wenn du dastehst, du nackig, alle anderen angezogen, da ist dieser Reiz. Die Leute gucken, die Leute sehen dich an und reagieren auf dich! Das ist das, was mich anmacht. Im Normalfall ist das halt Gekicher.

H&K: Sind Stadtparks oder Plätze mit Schutz bietender Natur ein bevorzugter Ort für Exhibitionisten?


Boris:
Nein. Das sind Gerüchte. Die mit dem großen Mantel, das sind Leute, von denen man sich distanzieren sollte. Da geht es ums bloße Erschrecken. Ich glaube nicht, dass es viele davon gibt. Es ist aber nicht das, worum es geht. Wenn ich in die Öffentlichkeit gehe, dann mache ich das irgendwo, wo es nicht ganz illegal ist. Du gehst raus in den Wald oder so und läufst da nackig rum. Und dann ist da die Hoffnung, dass dort auch „normale“ Menschen herlaufen. Die Leute meinen ja, alle Exhibitionisten sind potenzielle Vergewaltiger – sperrt die Kinder weg! Das ist ja nicht so. Ich zum Beispiel gucke auch immer, dass keine kleinen Kinder dabei sind.

H&K:Wie wählen Sie die Menschen aus, denen Sie sich zeigen?


Boris:
Das ist relativ einfach. Das muss natürlich eine Frau sein, in meinem Fall, weil ich absolut hetero bin, mit Männern kann ich nichts anfangen. Es ist natürlich schön, wenn die Frau optisch etwas hermacht. Das macht mehr Spaß. Ansonsten muss eine Reaktion kommen, egal ob eine positive oder negative. Das Schönste ist, wenn diese Frau dann mitmacht, sich also auch auszieht, oder wenn sie stehen bleibt und länger guckt. Das kommt aber selten vor, es sind meistens nur Sekunden.

H&K: Gibt es mehr männliche oder mehr weibliche Exhibitionisten?


Boris:
Der größte Teil sind wohl Männer. Man hört gar nichts von weiblichen. Gut, die werden natürlich auch nie angezeigt. Lass doch mal ’ne Frau nackig hier durch den Laden laufen, da passiert doch nichts. Die Leute sagen dann einfach: „Toll, schön.“

H&K: Wie verläuft die Situation, wenn Sie sich zeigen? Ist diese Aktion geplant oder eher spontan?


Boris:
Das muss geplant sein. Im Winter kannst du ja draußen nichts machen. Die besten Orte sind Saunen und Hallenbäder: Es gibt ja zum Beispiel Mitternachtssaunen. Da ist bis zehn Uhr normaler Badebetrieb und danach bis zwei Uhr morgens FKK-Baden. Beim Übergang, also von kurz vor zehn bis kurz nach zehn, sind noch genügend normale Badegäste im Bad oder am Umziehen oder am Haare föhnen, die mit FKK nichts zu tun haben, die am Gehen sind. Und das ist dann geplant. Du guckst dir alles an, suchst dir aus, wo du stehst, und dann läufst da nackig her, ohne dass etwas passiert. Wenn etwas nicht ganz legal ist, musst du dir einen Flucht- oder Rückzugsweg bereithalten. Im Sommer bin ich gerne in FKK-Gebieten. Das ist ja legal. Dieses FKK-Gebiet ist irgendwo zu Ende. Rundherum ist eine Grenze. Im FKK-Gebiet ist es ja sinnlos – wenn alle nackig sind, hast du nichts davon. Interessant wird es, wenn du die Grenze vom FKK-Gebiet überschreitest. Zum Auto, oder du machst einfach einen Spaziergang raus in das „Normalo-Gebiet“. Und da kannst du immer noch sagen: „Oh, Entschuldigung, das hab ich jetzt nicht gewusst, bin das erste Mal hier.“ Da macht keiner was. Da gibt’s vielleicht ein bisschen Theater, ist mir aber bis jetzt noch nicht passiert. Dann gehst du wieder zurück, hast aber vielleicht deinen Kick gehabt.

H&K:Sind Flitzer in Fußballstadien Ihrer Meinung nach auch Exhibitionisten?


Boris:
Es wird wohl Leute geben, die das machen, um zu stören oder um auf sich aufmerksam zu machen. Ich glaube, ansonsten sind es Exhibitionisten. Ich würde es nicht machen, weil das ja so eine Art „Fernexhibitionismus“ ist. Es würde mir nichts bringen, weil du durch das Stadion rennst, und das war es. Fertig. Unerotisch. Du willst ja eine Reaktion, ein Feedback haben, was dich anmacht.

H&K: Wurden Sie schon mal angezeigt und bestraft?


Boris:
Ja. Leider. In der Anfangszeit habe ich das mal zu Hause gemacht. Du bist im Bad, du bist nackig, und dann kommen Leute vorbei, suchst dir die auch vorher aus, du siehst ja wer kommt, und dann machst du die Rollläden hoch oder so was, zufällig natürlich. Is’ klar. Wenn du die Rollläden hochmachst, ist es laut, die Leute gucken dann. Und du stehst da – toll! Es kann nichts passieren, normalerweise. Du machst ja nichts Verbotenes. Du bist nicht am Onanieren oder so. Aber die Leute können sich belästigt fühlen, das war in diesem Fall so. Da war ich noch jung, heutzutage würde ich das nicht mehr machen. Damals haben die mich tatsächlich wegen exhibitionistischen Handlungen angeklagt, richtig vor Gericht, war nicht so witzig. Das war zu Hause bei den Eltern. Ich musste damals 400 Mark oder so zahlen, und dann wurde das Verfahren eingestellt. Heute kommst du mit jedem guten Anwalt da raus. Damals war das in ’ner kleinen Stadt, da bist du froh, wenn es vom Tisch ist. Das Gerede, die Nachbarn.

H&K: Wie ist Ihr Kontakt zu Ihrer Familie? Wer ist über Ihre Neigung informiert?


Boris:
Der Kontakt ist gut. Aber es ist niemand über die Neigung informiert, auf keinen Fall! Ich führe ein Doppelleben. Stell dir mal vor, deine Kollegen auf der Arbeit wissen Bescheid, deine Familie! Im Prinzip müsste dir das egal sein. Eigentlich ist es nur eine sexuelle Ausrichtung. Aber die Konsequenzen sind, dass du ausgegrenzt, ausgelacht, belästigt wirst. Darum muss man das geheim machen, was einem die Sache natürlich nicht gerade erleichtert.

H&K: Würden Sie sich eher als schüchtern und ängstlich bezeichnen oder als selbstbewusst und stark? In welchen Situationen haben Sie Angst?


Boris:
Schüchtern bin ich nicht. Relativ selbstbewusst. Ich habe immer Angst, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Das war bisher einmal der Strafbefehl, dann habe ich noch zwei Hausverbote, in irgendwelchen blöden Hallenbädern. Das ist nicht dramatisch, es ist in der Situation nur unangenehm. Du gehst da durch einen Gang, ziehst dich um, ist alles ganz normal, mir ist nicht aufgefallen, dass sich irgendjemand belästigt gefühlt hätte, da kam der Bademeister an mit irgendeiner Frau, dass er doch jetzt ganz gerne meine Personalien aufnehmen würde und ich mich schleunigst anziehen sollte und dann auch nicht wiederzukommen bräuchte. Und dann hat er mich doch als Spanner bezeichnet, also Spanner bin ich schon gar nicht. Genau das Gegenteil! Klar hab ich hier und da geguckt. Es ist auch ein tolles Bad, da ist nämlich in der Umkleide ein Stück Glaswand zum Hallenbadbetrieb. Du kannst dich umziehen, dich eincremen, nackt stehen und die Leute können dich sehen. Das ist klasse! Völlig legal, das ist ja deren Problem, da ist eine Glaswand, das kann ich auch nicht ändern. Wenn die meinen, mir beim Eincremen zusehen zu müssen, dann ist das so. Wahrscheinlich muss sich einer beschwert haben. Dabei müssen die Leute ja nicht hingucken. Und wenn sie gucken, dann mach ich doch weiter. Ich hab ja nicht onaniert oder so. Das ist diese Grenze, die ich immer versuche einzuhalten.

H&K: Verändert sich Ihre Gemütslage, sobald Sie sich anderen zeigen?


Boris:
Man ist natürlich schon leicht erregt. Der Puls geht höher, das ist ein bisschen wie beim Sex. Nicht ganz so schön. Es dreht sich alles ein bisschen höher.

H&K: Wie ist Ihr Sexualleben?


Boris:
Das ist völlig normal. Ich bin hetero. Das hat damit tatsächlich nichts zu tun.

H&K:Würden Sie Exhibitionismus als Krankheit bezeichnen?


Boris:
Nein, keine Krankheit. Es ist eine Art Droge. Ich würde es als sexuelle Ausrichtung bezeichnen, die drogenähnlich ist. Man plant etwas, und wenn es zum Event kommt, zum Kick, dann fühlt man sich befriedigt, einfach gut. Da hilft es auch nicht zu therapieren, auch wenn das viele meinen.

H&K: Bekämpfen Sie den Drang zum Exhibitionismus? Lassen Sie sich dagegen behandeln?


Boris:
Überhaupt nicht. Geht gar nicht. Hab ich auch nicht vor. Es macht Spaß. Würdest du dich behandeln lassen, wenn du an irgendetwas Spaß hättest? Nein. Ich sehe es auch nicht ein, gefangen zu sein in irgendwelchen Zwangstherapien oder Selbsthilfegruppen. Ich kann da nicht von mir aus sagen, ich hör auf. Ich kann zwar wochenlang ohne, wenn es sein muss, aber dann wäre es schon schön, wenn es mal wieder passiert.

H&K: Wie stark ist der Druck, sich in der Öffentlichkeit nackt zu zeigen?


Boris:
Ich würde es gerne jeden Tag machen. Keine Frage. Ein Traum wäre zum Beispiel, im Sommer mal nackig einzukaufen. Schön durch die Stadt gehen, schön durch den Supermarkt, hätte ich Bock drauf, habe ich aber noch nie gemacht. Und solange du dich dabei nicht anpackst, passiert ja auch nicht viel. Aber das Risiko ist natürlich unkalkulierbar. Wenn du nackig durch den Supermarkt gehst, weißt du nicht, wie die Leute reagieren. Es kann sein, dass 50 Leute sagen, oh ja, genial, und einer davon flippt aus. Dann stehst du da.

H&K: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?


Boris:
Das soll ruhig alles so bleiben, wie es ist. Ich habe eine Frau, das ist okay so.

H&K: Weiß die davon?

Boris: Nein. Keiner. Wäre schön. Ich kenne jemanden, dessen Freundin ist auch Exhibitionistin, das ist natürlich das Optimum.

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