Tagebuch war gestern, Blog ist heute. Begegnung mit zwei Menschen, die im Internet Persönliches preisgeben
(aus Hinz&Kunzt 168/Februar 2007, Jugendausgabe)
Private Blogger veröffentlichen im Internet ihre Erlebnisse und Gedanken. Was steckt dahinter: seelischer Exhibitionismus? Dichtung und wenig Wahrheit? Die Blogger André (Name geändert) und Kirsten erzählen.
André ist 30 und arbeitet im Online-Marketing. Seine Aufgabe: Internet-Seiten populär zu machen. Und das kann er. Wie sein eigenes Weblog beweist, ein Online-Tagebuch der etwas anderen Art. Denn zwei bis drei Mal im Monat wird André zu Zoe – einer Partytranse. Täglich wollen rund 450 Menschen erfahren, was Zoe zu schreiben hat.
Zoes erste Tagebucheinträge waren im Juli 2004 im Internet zu lesen – inspiriert durch Weblogs aus England, wo es eine Community für Transvestiten-Blogs gibt. „Blogs helfen, sich selber zu verstehen, rauszugehen, den Schritt zu machen“, sagt André. „Zuerst wollte ich mich nur für einen kleinen Kreis mit Bildern darstellen – eine Art Selbstvermarktung. Dann stellte ich fest, dass sich wirklich viele Leute dafür interessieren.“
Mittlerweile hat sich daraus ein Tagebuch entwickelt. André: „Teilweise bin ich Geschichtenschreiber. Nicht alles, was ich veröffentliche, ist hundertprozentig so passiert. Manchmal dichte ich Sachen hinzu oder lasse etwas weg.“ Interessant und witzig solle sein Weblog sein. Zoe schreibt über Gästelisten bei Partys, den Quelle-Katalog (man erkennt angeblich Transen daran, dass sie den Katalog wegen der Modestrecken von vorne lesen und nicht wie andere Kerle von hinten) oder den Nutzen von Klopapier für Passanten auf St. Pauli (wer mit einer Packung über den Kiez geht, wird nicht von Prostituierten angesprochen, weil er wie ein Anwohner wirkt).
Aber auch der Hinz&Kunzt-Fototermin taucht im Blog auf: „Letzten Dienstag bekam ich am frühen Mittag einen Anruf, wann ich denn könnte und ob ich vielleicht gar schon an dem Abend gegen 21 Uhr könne… Fuck heuteAbend? Was ziehe ich nur an, wie style ich mich. Hilfeee!“ Seinen bürgerlichen Namen gibt André nicht preis. „Wer den bei Google eingibt, wird nichts finden. Wer aber auf meinem Blog ist, kann herausfinden, wer ich bin“, sagt er. Lässt er sich zu tief in die Seele blicken? „Nein, dazu lesen es zu viele. Das typische Online-Tagebuch kann sicherlich eine Eigentherapie sein. Blogs allerdings, auf die häufig zugegriffen wird, dienen eher der Selbstdarstellung.“
Seit knapp einem Jahr ist das Tagebuch von Kirsten online. „Die hier veröffentlichten Texte geben die völlig unwichtigen Geschehnisse in meinem Leben wieder, die ich aber aufgrund einer ausgeprägten Profilneurose trotzdem der Welt mitteilen möchte“, schreibt die 33-Jährige mit einem Augenzwinkern im Impressum. Sie hat ein Dreivierteljahr in Hamburg verbracht, als Online-Redakteurin für den NDR gearbeitet und lebt mittlerweile im westfälischen Lippstadt. Rund 200 Menschen täglich besuchen ihre private Gedankenwelt.
Wie kam es dazu? „Als ich arbeitslos war, ist Bloggen für mich eine gute Möglichkeit gewesen, weiterzuschreiben und dabei eine gewisse Öffentlichkeit zu genießen“, erzählt sie. „Als Journalistin kann ich auf diesem Weg andere Leser erreichen. Außerdem bin ich thematisch nicht gebunden. Ich kann mich richtig austoben.“
Früher habe sie regelmäßig Tagebuch geschrieben, sagt Kirsten. „Jetzt blogge ich und halte meine Erlebnisse in dieser Form fest.“ Allerdings habe sie früher ins Tagebuch sehr viel privatere Dinge geschrieben. „Einmal habe ich in meinem Blog angedeutet, dass ich Liebeskummer habe. Tiefer geht es aber nicht. Da nehme ich Rücksicht auf Leute, die davon betroffen sein könnten. Und ich achte darauf, was für ein Bild ich nach außen transportiere.“
Kirsten schreibt von ihren Erlebnissen in Hamburg, ihrer Leidenschaft für Borussia Dortmund und dem ganz normalen Alltagswahnsinn inklusive langer Arbeitslosigkeit: „Man wird seltsam, man sagt Verabredungen ab, weil man das letzte Geld nicht auch noch in Bier investieren sollte. Ich geh kaum noch in die Stadt, weil ich mir eh nichts leisten kann. Man kann das Leben nicht genießen, wenn man den ganzen Tag nur über Geld nachgrübelt und schon wieder zwei Bewerbungen zurückbekommen hat. Dass man mich hier nicht falsch versteht: Ich weiß, dass ich immer noch auf hohem Niveau jammere. Ich habe die Chance, in meinem Job weiterzuarbeiten, meine Familie ist immer für mich da und rettet mir den Arsch und zwischendurch hab ich immer mal wieder einen Job und kann das Konto auffüllen.“
Täglich anderthalb bis zwei Stunden beschäftigt sich Kirsten mit ihrem Online-Tagebuch. Die Reaktion der Leser sei ihr wichtig: „Feedback bekomme ich durch Kommentare.“ Auch ihre Eltern würden übrigens mitlesen. „Aber die sind verpflichtet, das gut zu finden“, sagt Kirsten lachend. Ihr Blog sei auch eine Schnittstelle zu Freunden, „die stets Neuigkeiten über mich lesen können“.
Durchs Publizieren im Cyberspace lernte Kirsten andere Blogger kennen – sogar persönlich. Dabei erfuhr sie, dass nicht jeder so strikte Grenzen zieht wie sie. „Eine befreundete Bloggerin aus Berlin betreibt online regelrecht Trauerarbeit und verarbeitet so den Tod ihrer Mutter.“ Kirsten findet das „absolut in Ordnung“ – wenn es demjenigen helfe, mit einem Problem fertig zu werden.
Reflektierter Subjektivismus. Bearbeitete Intimität. Ein Spiel mit den Vorstellungen und Grenzen von Privatheit indem man sich selbst zum (Marketing-)Objekt macht. Und dennoch: Die meisten Weblogs finden jenseits von ökonomischen Zielen statt. Deshalb sind sie näher am Leben als viele andere Medienerzeugnisse. Auch Big Brother oder andere Reality Shows sind nicht authentischer, denn sie leben von der Werbeindustrie und künstlich herbeigeführten Spannungselementen. In jedem Fall entwickeln sich in der „Blogosphäre“ kreative Arten, über die Welt zu schreiben und zu reflektieren.
Weblogs sind eine Art soziale Software, mit der man in Gedankenmilieus vordringen kann, zu denen man normalerweise keinen Zugang hat. Der Schlüssel für ein kunstvoll verziertes Tagebuch mit eisernem Verschluss. Man muss sie nur finden – in den abgelegenen Orten der „Blogosphäre“.
ZOES BLOG: http://zoe-hh.transgender-blogs.com
KIRSTENS BLOG: http://kikandrun.wordpress.com
Ole Hoffmann
Die ersten Weblogs (abgekürzt: Blogs) entstanden Mitte der 90er-Jahre – zumeist als Online-Tagebücher für den Privatgebrauch. Inzwischen haben sich daraus diverse Formen entwickelt. So geht es in Watchblogs um die kritische Auseinandersetzung mit Online- und Print-Medien. Unternehmen präsentieren sich mit Hilfe sogenannter Corporate Blogs der Öffentlichkeit. Und Journalisten bietet ein Blog nahezu uneingeschränkte Möglichkeiten des Publizierens.