Hosen runter für die Kunst!

Jugendredakteur Philipp Runge versuchte sich als Aktmodell

(aus Hinz&Kunzt 168/Februar 2007, Jugendausgabe)

Philipp Runge zog blank: Einen Vormittag lang stand er dem Aktzeichenkurs an der Kunsthochschule in der Armgartstraße Modell.

Es ist 9.10 Uhr an einem Dienstagmorgen. Ich liege auf einem Holzpodest, unter mir eine fleckige Matratze und drei Kissen. Ich bin nackt. Und 20 Kunststudenten schauen auf meinen Hintern.

„Jung, es iss alles festgewachsen, dir guckt keiner watt ab!“ – Das hat mein Vater immer gesagt, wenn ich mich nicht getraut hatte, an Autobahnrastplätzen zu pinkeln. Ich hoffe, dass er in diesem Punkt recht behalten wird. Hinter mir ist eine Spiegelfolie angebracht, die meinen Körper von allen Seiten zeigt. Da diese Reflektionsfolie mit Falten und Wellen befestigt ist, um die Abstraktion zu verstärken, blicke ich in mein eigenes verzerrtes Gesicht. Ich starre ständig auf einen einzigen Punkt in meinem Spiegelbild, um meinen Kopf nicht zu bewegen. Denn nichts hassen die Studenten mehr als ein unruhiges Aktmodell.

Im Hintergrund kann ich Menschen erkennen, die wild mit dem Pinsel fuchteln und wechselseitig auf mich und ihre Staffelei schauen. Ich kann niemanden scharf erkennen und nicht sehen, wer mir gerade wohin starrt. Ich denke an nichts, außer an den gemütlichen Sitz im Bus nachher in die Stadt. Ein Heizstrahler an meinen Füßen erleichtert mir bei sechs Grad Außentemperatur das Leben. Ich kann mir keine ungemütlichere Situation vorstellen.

Ich gehe in dieses Abenteuer natürlich nicht ganz unvorbereitet. Am Morgen nach dem Duschen reicht mir kein flüchtiger Blick in den Spiegel. Ich schaue etwas länger hinein, die optische Kontrolle fällt ausführlicher aus als an normalen Tagen. Gibt es Problemzonen? Aber eigentlich ist das unerheblich, ich kann meine kräftigen Oberschenkel komplett ohne Kleidung sowieso nicht verdecken. Ich sehe nach, ob irgendwo an meinem Körper Pickel zu erkennen sind. Ich überprüfe auch, ob an diesem besonderen Tag etwas gegen die Brustbehaarung getan werden muss. Nicht dass man sonst nicht darauf achtet, aber an solchen Tagen besonders stark. So eitel kann man in diesem Moment schon sein.

Natürlich denke ich daran, was alles schief laufen könnte. Was würde passieren, wenn ich auf dem Podest plötzlich einen ungewollten Harndrang verspüren sollte? Es wäre in dieser Situation sicherlich blöd, kurz aufzustehen, um nackt durch den Flur zur Toilette laufen zu müssen. Oder schlimmer: Eine brünette Traumfrau in Gestalt einer Kunststudentin betritt mit ihren Zeichenutensilien unterm Arm den Raum und wirft ihre Blicke in Richtung Podest. Bei manchen Männern würde in diesem Moment ein zentrales Körperteil gen Himmel ragen. Auf dieses mögliche Problem machte mich ein paar Tage vor dem Termin in der Kunsthochschule unser Volontär Marc-André aufmerksam. Daran hatte ich noch nicht gedacht, aber wofür hat man schließlich Kollegen.

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Ich habe ganz andere Probleme. Es ist 10.55 Uhr, ich liege seit eineinhalb Stunden in der exakt gleichen Position. Ich spüre ihn, den Schmerz. Es foltern mich mein Unterarm und mein Becken, auf denen fast mein gesamtes Gewicht lagert. Zunächst leicht, mit der Zeit wird die Qual immer stärker. Ich bin hilflos, kann in meiner Lage nichts zur Besserung unternehmen. Der Schmerz macht die Minuten zu Stunden. 11.35 Uhr – die Erlösung, endlich Pause.

Und wieder eine Situation, von der ich nie gedacht hätte, dass ich dort hineingerate. Nur mit einem Handtuch um die Hüften, was dazu noch die nervige Eigenschaft hat, nach unten zu rutschen, befinde ich mich im Small Talk mit den Kunststudentinnen und -studenten sowie dem Professor. Mittlerweile bin ich aber bereits an die Situation

gewöhnt, sodass es mir nicht merkwürdig vorkommt, als Einziger so leicht bekleidet im Raum zu stehen. Ich denke bereits daran, dass ich in zehn Minuten in die gleiche Position

zurückmuss.

Einige Tage später wurde ich seitens der Redaktion gefragt, ob ich jemals daran gedacht hatte, mich für den Tag krank zu melden. Es hätte mir in zweifacher Hinsicht nichts gebracht. Zum einen wäre der Termin nur verschoben und nicht verschwunden, zum anderen hätte ich vor der gesamten Redaktion als Feigling dagestanden. Doppelt sinnlos.

Im Vorfeld hatte ich einige Sorgen, die sich dann aber als unnötig erwiesen. Beispielsweise die, ich sei eines Modells körperlich nicht würdig. Wie ich von Professor Gudenau erfuhr, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Farbe und Form lehrt, stimmt das nicht. Es gibt ein Vorurteil, dass Aktmodelle immer aufgepumpte Bodybuilder oder vollbusige Traumfrauen sein müssen. Die meisten sind das nicht. Es wird nicht zwischen dick und dünn, muskulös oder mager unterschieden. Vielmehr spiele die Hautfarbe eine entscheidende Rolle. Denn dunkelhäutige Menschen sind wesentlich einfacher zu zeichnen als hellhäutige, da es mehr erkennbare Kontraste gibt. „Außerdem haben deutsche Modelle kaum Durchhaltevermögen auf dem Podest“, erklärt mir Professor Gudenau, „wir Deutschen sind einfach zu sehr verweichlicht.“

Das zweite Vorurteil, das ich ausräumen kann: dass man eine ständige innere Aufregung verspürt, während man gezeichnet wird. Das wäre fatal und würde das Bild zerstören. Vor meinem Termin hatte auch ich diese Sorge und war aufgeregter als zum eigentlichen Zeitpunkt. Gerade dadurch, dass man in einer Kunsthochschule entblößt liegt und nicht auf einer belebten Einkaufsstraße, kam Aufregung überhaupt nicht auf. Im Raum 315 im dritten Stockwerk an der Armgartstraße ist die Nacktheit alltäglich. Wenn man bedenkt, dass hier fast jeden Tag jemand anderes liegt, der von eifrigen Studenten gezeichnet wird, dann bleibt das ungeliebte Schamgefühl aus.

Reich werden kann man als Aktmodell übrigens nicht. 12,78 Euro die Stunde – da müsste man sich schon acht Stunden am Tag aufs Podest schwingen.

Eine meiner Sorgen hat sich dann doch bewahrheitet: Kann man es aushalten, von 9 Uhr morgens bis gegen 13 Uhr bei einer zehnminütigen Pause starr wie ein Eisklotz in einer Position zu verweilen? Man kann es, allerdings mit Schmerzen an den Körperteilen, die das Körpergewicht tragen. Die mich noch am nächsten Morgen wissen ließen, was ich meinem Körper angetan hatte.

Beim Verlassen der Hochschule fragte der Kunstprofessor dann noch freundlich, ob er mich nicht für die Zukunft buchen könnte. Ich winkte dankend ab. Aber zum Glück war alles Wichtige an meinem Körper noch an seinem Platz. Mein Vater hatte recht behalten.

Philipp Runge

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