Der rot-grüne Senat hat ein „Sofortprogramm“ für Obdachlose versprochen – und ließ trotzdem das Containerdorf am Grünen Deich nach dem Winternotprogramm räumen. Dabei sind alle Notunterkünfte für Obdachlose in der Stadt überfüllt.
Den ganzen Vortag hatte es durchgängig gestürmt und geregnet. Jetzt, am Morgen des 1. April, ist der Himmel immer noch verhangen. Als David vor das Containerdorf am Grünen Deich in Hammerbrook tritt, brechen immerhin für einen kleinen Augenblick Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. „Um lange draußen zu sein, ist es allerdings noch viel zu kalt“, sagt er.
Dennoch wird David die nächsten Stunden auf der Straße verbringen müssen. Der 23-Jährige ist obdachlos. Den Winter verbrachte er im Winternotprogramm. Erst für ein paar Nächte in einem ehemaligen Schulgebäude in Horn, später dann in den Wohncontainern am Grünen Deich. Mehr als 900 Menschen schliefen Anfang März in den Notunterkünften. So viele wie noch nie. Sie alle müssen genauso wie David wieder raus auf die Straße, denn an diesem 1. April schloss das Winternotprogramm endgültig seine Pforten.
Fast zeitgleich hatten sich SPD und Grüne im Rathaus zu den Koalitionsverhandlungen zusammengesetzt. Auf der Tagesordnung: Stadtentwicklung und Wohnungsbau. Und während im Winternotprogramm der große Kehraus begann, vereinbarten beide Partner ein „Sofortprogramm“ zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit.
Eigentlich eine super Idee! Aber: Was ist bitte mit Soforthilfe gemeint, wenn die einzigen zur Verfügung stehenden Unterkünfte einfach dichtgemacht werden? „Sofortprogramm heißt, sich sofort Gedanken zu machen“, ließ Claas Ricker, Pressesprecher der SPD-Fraktion, auf Nachfrage verlauten. Mehr nicht.
Tatsächlich lagen zu diesem Zeitpunkt schon Pläne vor, in den Wohncontainern über den Sommer ein Hostel für Touristen einzurichten. Touristen statt Obdachlose? Für uns war dieser Vorschlag an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Umsetzen wollte das Projekt am Grünen Deich die Rote Doppeldecker GmbH. Das Unternehmen betreibt gleich nebenan einen Wohnmobilstellplatz.
Nachdem der öffentliche Druck zunahm, verwarf es die Hostel-Pläne. Man habe keine Obdachlosen verdrängen wollen, beteuert Geschäftsführerin Katharina Fest: „Ich habe aber kein Verständnis dafür, dass die Container jetzt einfach leer stehen.“
Das sehen wir genauso. Die Container sind angemietet. Sie bieten Platz für bis zu 200 Menschen. Es wäre ein Leichtes, das Containerdorf auch im Sommer als Notunterkunft offen zu halten. Eine dauerhafte Unterbringung von Wohnungslosen ist auf dem Gelände allerdings aufgrund von Lärm- und Luftemissionen nicht möglich, erklärt der städtische Unterkunftsbetreiber fördern und wohnen (f&w). „Eine Nachtnutzung ist aber zulässig.“ Mehr wollen wir auch gar nicht: Obdachlose könnten Schutz bei Sturm und Regen finden und in den Containern nachts ein wenig zur Ruhe kommen.
Wir meinen: So könnte ein Sofortprogramm aussehen! Aber Ksenija Bekeris sieht das anders: „Eine Notunterkunft für Wohnungslose während der Sommermonate ist keine Lösung“, sagt die sozialpolitische Sprecherin der SPD. Wichtiger sei es, die Plätze in den Dauerunterkünften auszubauen. Sogar die Grünen kommen nicht ohne Wenn und Aber aus: „Wenn es Spielraum gibt, hier über eine Vergabe an Wohnungslose auch über den Sommer nachzudenken, würden wir das für sinnvoll halten“, sagt die Abgeordnete Antje Möller.
Da das Nachdenken anhält, räumten f&w-Mitarbeiter Anfang April die Container aus, während überall in der Stadt Hunderte Obdachlose wieder ihr Lager aufschlugen: unter Brücken, vor Geschäften und zeltend in Parks. Bekanntlich stammen viele aus Osteuropa. Nach Auffassung der Sozialbehörde haben sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen und Unterbringung. Denn viele sind hier noch nie einer sozialpflichtigen Arbeit nachgegangen.
David hingegen hätte Anspruch auf eine Wohnung. So wie alle deutschen Obdachlosen. Trotzdem erhält er keinen Platz. Die Behörde kann ihn nicht unterbringen, weil alle Unterkünfte komplett belegt sind. Wie es jetzt weitergeht? „Ich werde wahrscheinlich in einem leer stehenden Gebäude pennen“, sagt David. Auch in zentraler Lage gäbe es zahlreiche ungenutzte Häuser. Nicht jeder aber bringt den Mut zur „Hausbesetzung“ auf.
Viele Obdachlose suchen deswegen Zuflucht im Pik As. Trotz des schlechten Rufs, den Hamburgs einzige ganzjährige Notunterkunft unter Obdachlosen genießt. Diebstähle stünden auf der Tagesordnung, die Stimmung sei teilweise aggressiv, erzählen sie uns. Aber wo sollte man bei Dauerregen und kalten Temperaturen sonst hin?
Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuße: Seit Anfang April sind alle vorhandenen 260 Plätze im Pik As belegt. f&w bestätigt, dass Obdachlose deswegen „nicht aufgenommen werden konnten“. Die Situation hat eine neue Qualität erreicht. Es ist das erste Mal, dass die Notunterkünfte Bedürftige abweisen müssen.
An Ostern muss es besonders schlimm gewesen sein: Bei der Bahnhofsmission standen abends und nachts 50 Obdachlose vor der Tür, die im Pik As keinen Platz bekommen hatten. Das berichtet Missionsleiter Axel Mangat: „Wir wussten nicht, was wir den Leuten sagen sollen.“ In vergleichbaren Fällen habe die Stadt den Obdachlosen sonst immer Angebote gemacht, sagt er. Dieses Mal aber nicht. „So dramatisch war die Lage lange nicht mehr“, sagt Mangat. Vielen Obdachlosen blieb also nichts anderes übrig, als nachts bei Bodenfrost draußen zu schlafen.
Natürlich landen nicht alle nach Ende des Winternotprogramms auf der Straße. Einige kommen bei Bekannten unter. Ihnen geht es vergleichsweise gut. Denn Hilfe von den Behörden können Obdachlose kaum noch erwarten. Gerade einmal 42 wurden im Winter in eine eigene Wohnung oder eine Unterkunft vermittelt. Weil die Vermittlung in Wohnungen so schwierig ist, bietet die Stadt eigene Unterkünfte für Wohnungslose und Flüchtlinge an. Mehr als 12.000 Plätze gibt es. Doch die sind völlig überfüllt. Deswegen landen immer wieder auch Menschen auf der Straße, die eigentlich Anspruch auf eine Unterkunft hätten. Mitarbeiter aus der Wohnungslosenhilfe schätzen, dass inzwischen mehr als 2000 Menschen auf Hamburgs Straßen schlafen.
Was will der neue Senat dagegen tun? Rot-Grün hat immerhin angekündigt zu helfen. Mit den Sozialverbänden will man sich an einen runden Tisch setzen und Lösungen entwickeln. Ein Schritt in die richtige Richtung ist, dass die Saga GWG statt 1700 Wohnungen künftig jährlich 1900 Wohnungen für Wohnungslose zur Verfügung stellen soll. Auch die Zahl der Zwangsräumungen soll durch einen Ausbau der Schuldnerberatung reduziert werden. Den Menschen, die bereits auf der Straße leben, hilft das allerdings nicht sofort.
Und kurz vor Redaktionsschluss hieß es plötzlich, dass Flüchtlinge in die ehemaligen Standorte des Winternotprogramms ziehen könnten. Das zumindest vermeldete der NDR. Die Sozialbehörde bestätigte, dass eine befristetete Nutzung dieser für die Sommermonate durch f&w geprüft wird. Es sei noch offen, für wen die Plätze bereitgestellt werden. Den Vorschlag, die Einrichtungen Geflohenen zur Verfügung zu stellen, halten die Grünen nicht für abwegig. „Es wäre akzeptabel, wenn dort Flüchtlinge unterkommen, wenn dadurch verhindert wird, dass Flüchtlinge in Zelten schlafen müssen“, heißt es aus der Pressestelle.
Dass Obdachlose in Zelten schlafen müssen, scheint hingegen niemanden zu stören. Uns ist wichtig zu betonen: Obdachlose und Flüchtlinge dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Hamburg braucht mehr Unterkünfte und Wohnungen für beide Gruppen. Gerade deswegen müssen die wenigen bestehenden Notunterkünfte für Obdachlose auch im Sommer genutzt werden. Und zwar von Obdachlosen.
Von dort aus könnten die Menschen in den kommenden Monaten in Unterkünfte oder sogar Wohnungen vermittelt werden. Im Ergebnis würden anschließend weniger Menschen wieder im Winternotprogramm landen. Keine neuen Negativrekorde im nächsten Winter! Das wäre ein erster, echter Erfolg.
Text: Jonas Füllner
Fotos: Mauricio Bustamante