Die Bahn und wir, wir haben nicht unbedingt das, was man eine harmonische Beziehung nennt. Meist geht es bei den Konflikten darum, dass Obdachlose vertrieben werden. Trotzdem hat die Bahn jetzt eine Aktion gestartet, mit der sie Off Road Kids und uns unterstützt. Anlass für ein offenes Gespräch.
(aus Hinz&Kunzt 261/November 2014)
Kein Thema. Der Hauptbahnhof ist fast immer pickepackevoll, sich vom Möncketunnel bis zu den S- und U-Bahn-Eingängen auf der anderen Seite durchzuschlagen, gleicht meist einem Nahkampf. Und wir kennen das Problem: Den 1906 „schon auf Zukunft“ gebauten Bahnhof kann man nicht wesentlich vergrößern. Bis auf die Seite zum Steintorwall steht alles unter Denkmalschutz. Dass da jeder stört, der im Weg steht, auch Obdachlose und Trinkergruppen, kann man sogar verstehen.
Heute allerdings, an einem Montagmorgen, als wir uns mit Bahnhofsmanagerin Ellen Gevert und Bahnsprecher Egbert Meyer-Lovis treffen, ist ausnahmsweise alles megaentspannt. Eine Schulklasse hat sich auf dem engen Südsteg mit Sack und Pack niedergelassen. Aber Ellen Gevert hat vollstes Verständnis. „Die Lehrerin ist sicher heilfroh, wenn sie all ihre Schäfchen beisammen hat.“
Und dann erläutert Meyer-Lovis noch stolz, welche Anforderungen dieser Bahnhof immer wieder bewältigt: Demonstrationen, Kirchentage, Alstervergnügen – „alle Groß-
ereignisse haben ja immer etwas mit dem Hauptbahnhof zu tun“, sagt er. Hamburgs Hauptbahnhof ist der größte bundesweit: zumindest, was die Zahl der Passanten und Passagiere angeht. 450.000 Menschen kommen hier täglich durch, damit schlagen wir Berlins Hauptbahnhof (300.000) um Längen. Das alles möglichst reibungslos über die Bühne zu kriegen, ist – ganz klar – eine logistische Meisterleistung.
Aber ich bin neidisch auf Kirchentag, Alstervergnügen und Demonstrationen, denen ganze Sitzungen und Treffen gewidmet werden. „Können Sie Obdachlose nicht auch als eine solche spannende logistische Herausforderung betrachten?“, frage ich.
„Da verwechseln Sie etwas“, sagt Egbert Meyer-Lovis. Bei den Großveranstaltungen „haben Sie es mit Reisenden zu tun, die Züge als Transportmittel benutzen, aber nicht als Aufenthalt“.
Seit die Stadt der Bahn 2012 ein Sondernutzungsrecht übertragen hat, haben die Bahn und ihre Security sogar das Recht, Menschen, die sich im Bahnhof oder auf den Vorplätzen (das ist eigentlich öffentlicher Raum!) aufhalten, zu vertreiben. Bahnsprecher Meyer-Lovis mag das Wort „Vertreibung“ nicht. „Wir setzen unsere Hausordnung um, und das, bestätigt von Vertretern der Sozialverbände, mit viel Feingefühl.“ Wie auch immer: Im Bahnhof schlafen geht schon mal gar nicht. Nicht nur, dass es hier keinen Platz gebe, sagt der Bahnsprecher. „Es gibt auch keinen Wohlfühlfaktor. Ich vermittle einen Obdachlosen lieber dahin, wo es eine Toilette und Waschbecken, wo es eine In-frastruktur gibt.“ Denn, so Meyer-Lovis, auch ein Obdachloser habe „ein Recht auf ein bisschen Ruhe und Würde“.
Das finden wir auch. Und manchmal wirkt unser Protest gegen die Vertreibung geradezu grotesk. Als wären wir dafür, dass Obdachlose dringend an den zugigsten Stellen der Stadt schlafen sollen. Das Problem ist nur: Es gibt trotz Winternotprogramm und trotz der Existenz von Unterkünften (siehe Seiten 8 und 9 sowie ab Seite 32) nicht für alle einen Schlafplatz. Und da sind dann die Brücke oder der Bahnhof die letzte Alternative, weil eben überdacht.
Mit dem Sondernutzungsrecht der Bahn wird der sowieso schon begrenzte öffentliche Raum wieder um ein Stückchen kleiner. Die Obdachlosen oder Trinkergruppen lösen sich ja nicht einfach in Luft auf. Sie ziehen weiter: Inzwischen sitzen viele vor Saturn oder am Hansaplatz. Und je kleiner der öffentliche Raum wird, desto voller wirken dann diese Rückzugsorte und desto mehr gibt es dann dort wieder Stress.
„Ich bin in der Angelegenheit zwiespältig“, sagt Ellen Gevert. Weil sie den Bahnhof für die Passagiere attraktiv halten will, die sich oft über Obdachlose und Trinker beschweren. Weil sie aber auch sieht, „dass es seit drei, vier Jahren eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die schlichtweg nicht wissen wohin“. Deswegen versuche sie „viel mit der Bahnhofsmission zu machen, die auch ganz klar an ihre Grenzen gerät. Eine gewisse Hilflosigkeit spüre ich schon an ganz vielen Stellen“.
Klar sei für sie auch, dass man im Bahnhof immer „mit einem gewissen Aufkommen an Obdachlosen rechnen muss. Wir wollen auch keine Käseglocke um den Bahnhof herum.“
Eigentlich sind wir bei den Lösungsvorschlägen gar nicht weit entfernt voneinander. „Wir können uns nicht aus der Verantwortung herausnehmen“, sagt Ellen Gevert. In die Planungen der Bahn, so räumt sie ein, fließe das zwar nicht ein. Aber in den Arbeitskreisen, in denen auch Vertreter der Stadt und soziale Einrichtungen sitzen, „sei auf jeden Fall ein Wunsch da, Anlaufstellen zu bieten“. Die – und da sind wir völlig einer Meinung – „müssten im fußläufigen Bereich sein, weil ein Teil der Menschen krankheitsbedingt nicht mehr so weit laufen kann“.
Schade, dass wir dann notgedrungen wieder auf die Realität zu sprechen kommen. Die Arbeitsgruppen gibt es zwar, aber derzeit sind sie zahnlose Tiger. Weil auch die Bahn nicht den nötigen Druck auf die Stadt ausübt.
Der sicher ernst gemeinte Wunsch, auch selbst etwas anbieten zu können, „womöglich hier im Bahnhof“, ist eben nur ein Wunsch. Der Bahnhof platzt aus allen Nähten, darüber haben wir ja schon gesprochen. „Selbst für die Passagiere gibt es im Hamburger Bahnhof nur eine kleine Lounge, anders als in anderen Bahnhöfen“, sagt Ellen Gevert. Die Bahnhofsmission, deren Arbeit die Managerin wirklich schätzt, wird demnächst nicht etwa erweitert, sondern sogar verkleinert.
Was bleibt also von dem Gespräch? Vielleicht mehr Verständnis für die Sorgen des anderen. Die Erkenntnis, dass auf der jeweils „anderen Seite“ nicht
rohe Kräfte walten. Und bei uns die Hoffnung, dass die Bahn im Arbeitskreis eine Forderung aufstellt: eine Tagesstätte für Obdachlose in der Nähe des Bahnhofs und mehr Unterkünfte, an die sie verweisen kann.
Wir verabschieden uns in dem Wissen, dass der Grundkonflikt bald wieder auftauchen kann. Dann, wenn wieder ein Obdachloser vertrieben wird – und sich bei uns beschwert.
Aber erst mal bedanken wir uns dafür, dass uns die Bahn Geld spendet. Wissend, dass wir auch weiter kritisch berichten werden. Das Geld wird gut angelegt: Wir kaufen davon Monatskarten und verlosen sie unter unseren Verkäufern.
Text: Birgit Müller
Foto: Dmitrij Leltschuk