Mindestens 100.000 Menschen in Deutschland haben keine Krankenversicherung. In Elmshorn haben sie nun einmal wöchentlich die Gelegenheit, sich in einer offenen Praxis untersuchen zu lassen: kostenlos und anonym.
Der ehemals selbstständige Handwerker Herbert M., inzwischen knapp 70 Jahre alt, benötigt dringend einen Herzschrittmacher. Doch wie soll er den bekommen, wenn ihm seine Krankenkasse schon vor Jahren die Mitgliedschaft gekündigt hat, weil er die Beitragssätze nicht mehr zahlen konnte? Für solche Menschen gibt es im Kreis Pinneberg neuerdings einmal wöchentlich eine offene Sprechstunde: kostenlos und anonym. Ein dringend benötigtes Angebot, so Ulrich Grobe, Vorsitzender des Vereins „RegioMobil – Regionale medizinische Hilfe in Notlagen“. „Viele Krankheiten entwickeln sich nicht so schlimm, wenn den Menschen rechtzeitig geholfen wird. Und wenn jemand mit offener Tuberkulose auf der Straße herumläuft, ist das auch für andere nicht witzig.“
Mindestens 100.000 Menschen in Deutschland haben keine Krankenversicherung. Tatsächlich ist die Zahl der Betroffenen weit größer, denn die Hochrechungen des Statistischen Bundesamtes berücksichtigen weder Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere noch Obdachlose. Laut einer Studie des Diakonischen Werks leben allein in Hamburg bis zu 22.000 Menschen in der Illegalität. Die letzte Obdachlosen-Zählung in der Stadt 2009 erfasste 1029 Menschen, inzwischen dürfte die Zahl deutlich angestiegen sein.
Auch Selbstständige und Rentner sind teils schon seit langem aus dem System gefallen, weil sie ihre Beiträge nicht mehr zahlen konnten und die Krankenversicherung ihnen kündigte. Zwar beschloss der Bundestag vergangenes Jahr, dass Betroffene ihre Beitragsschulden erlassen bekommen sollen, wenn sie bis Ende 2013 einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Doch haben viele von dieser Regelung offenkundig nichts mitbekommen: Lediglich 24.475 Menschen haben die Chance zum Schuldenerlass genutzt, so die Bundesregierung kürzlich in einer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei.
Für die Mehrzahl der Betroffenen hat die Initiative der Regierung nur geringe Verbesserungen gebracht. Zwar wurde die Höhe der Säumniszuschläge von fünf auf ein Prozent gesenkt. Doch wächst der Schuldenberg weiter: Nahezu 5,2 Milliarden Euro Beitragsschulden haben sich bei den Kassen mittlerweile angehäuft, so die Bundesregierung – Tendenz steigend. Zudem habe das Gesetz keine Auswirkungen auf zukünftige Beitragsschulden von Menschen, die ihre Krankenversicherung nicht bezahlen können, kritisiert die Linke. „Gerade im Bereich der schlecht verdienenden Solo-Selbstständigen wird es immer eine nicht geringe Anzahl an Mitgliedern geben, die die relativ hohen Beiträge zumindest zeitweilig nicht aufbringen können.“ Angaben der AOK lassen diese Vermutung realistisch erscheinen: Demnach muss ein Selbstständiger in Deutschland für seine Krankenversicherung derzeit mindestens 308,99 Euro im Monat zahlen.
Dem ehemaligen Handwerker mit Herzproblemen M. konnten die ehrenamtlichen Mitarbeiter von „Sozius“ – Ärzte, Krankenschwestern und engagierte Laien – helfen. Er wurde in eine Klinik vermittelt, die ihm den dringend benötigten Herzschrittmacher einsetzen wird – kostenlos. Dass viele andere von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen bleiben, ist in einem reichen Land wie Deutschland ein gesellschaftlicher Skandal.
Offene Praxis „Sozius“, jeden Montag 18-19 Uhr, Haus der Begegnung, Hainholzer Damm 11, Elmshorn
Entsprechende Hilfe in Hamburg bieten die „Praxis ohne Grenzen“, die Malteser-Migranten-Medizin und das Westend Wilhelmsburg.
Text: Ulrich Jonas
Fotos: Rainer Sturm/pixelio.de und RegioMobil