Zum Glück gibt es die Tierretter vom Hamburger Tierschutzverein. Heiko Nauschütz ist einer von ihnen. Er rückt mit seinem Sprinter aus, wenn Menschen ausgebüxte Schlangen, herrenlose Hunde oder vernachlässigte Katzen finden. Auf Tour mit Struppi 1.
(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)
Heiko Nauschütz wird heute 160 Kilometer zurücklegen und dabei Hamburg nicht verlassen. Es geht von seinem Stützpunkt aus, dem Tierheim in der Süderstraße, kreuz und quer durch die Stadt. Nur den Süden kann er dies- mal auslassen, muss sich nicht durch den Elbtunnel quälen. Seit 14 Jahren ist er beim Hamburger Tierschutzverein als Tierretter angestellt und fährt das Mobil „Struppi 1“, einen Sprinter. „Ich habe vorher Veranstaltungen geplant, ein Event nach dem anderen organisiert, aber die Arbeit hier gefällt mir weitaus besser“, sagt er. Er hat noch mal von der Pike auf gelernt, was man grundsätzlich über Tiere wissen muss, dazu absolviert er pro Jahr drei bis vier Fortbildungen.
Die letzte handelte von Amphibien und Reptilien. Denn von denen gebe es in Hamburg immer mehr: „Die Leute bestellen sich die Tiere im Internet, sie züchten sie nach, dann wird es ihnen zu viel oder die Tiere büxen aus, und wir müssen sie einfangen.“ Heiko Nauschütz fährt jetzt über den Ring zwei, vor jeder Ampel staut sich der Verkehr. Das gelbe Blinklicht auf dem Dach darf er nur ein- schalten, wenn er zu einem Autounfall mit einem Tier gerufen wird und er die Unfallstelle absichern muss: „Zum Glück kommt das äußerst selten vor.“
Seine Schicht beginnt morgens um acht. Er checkt dann erst mal, was der Nachtdienst an Meldungen entgegengenommen hat. Diesmal: Ein Anwohner hat eine Kornnatter zur Lokstedter Polizeiwache gebracht. Die hat jemand einfach so angefasst? „Die sind nicht giftig“, sagt Heiko Nauschütz und dreht das Autoradio leiser. „Die Leute ne men heute einfach ihr Smartphone und googlen schnell, was sie da vor sich haben.“ Und während es im Schritttempo weitergeht, erzählt er von der Boa Constrictor, die er mal aus dem Fallrohr einer Regenrinne befreien musste; von Schlangen, die einem ihr Gift zielsicher in die Augen spritzen können und entsprechende Schutzbrillen erfordern, da- zu meterlange Stangen mit Greifern, die selbstverständlich hinter ihm im Wagen lagern. Erzählt von hochgiftigen Bananenspinnen, die er manchmal im Hamburger Hafen aus Containern fischen muss. Er verlässt die Welt der gefährlichen Tiere, erzählt von Rehen, die in Vorgärten die Schößlinge abknabbern, aufgeschreckt werden, in Panik fliehen und in Maschendrahtzäunen hängen bleiben. Erinnert sich an die zwei Traber, die sie mal auf der A7 einfangen mussten. „Jeder Tag ist anders; du weißt nie, was dich erwartet“, sagt er und wirkt dabei tief zufrieden.
Und weiter geht’s – zweiter Gang, dritter Gang, zurück in den zweiten Gang – Hamburg im morgendlichen Berufsverkehr, das ist kein Vergnügen. Zwischendurch ein Anruf. Er soll in der Stadtteilschule Bahrenfeld vorbeischauen. Ein Eichhörnchenjunges warte im Schulsekretariat auf ihn. „Geht klar“, sagt er und drückt das Gespräch weg. Fünf Minuten später hat er die Lokstedter Polizeiwache erreicht, er quittiert beim Diensthabenden den Empfang der Schlange, legt sie in eine Plastikbox, umwickelt alles mit einem Handtuch, damit das Tier nicht auskühlt. „Da ist jetzt aber nicht die Schlange drin?“, fragt eine Polizistin, zeigt auf die Box und drückt sich die Wand entlang, am Gürtel schwarze Handschuhe, Handschellen und im Holster ihre Waffe.
Und weiter geht’s, die nächsten Baustellen müssen geduldig ertragen werden, ihm fällt eine Abkürzung ein – sollte Heiko Nauschütz keine Lust mehr auf seinen Job als Tierretter haben (was höchst unwahrscheinlich ist), könnte er mühelos auf Taxifahrer umsatteln. Ein Eichhörnchen? Großes Geläch- ter im Schulsekretariat. Vielleicht ein Scherz? Eine Verwechslung? Nauschütz überprüft Adresse und Telefonnummer. Also er ist hier absolut richtig. „Hast du ein Eichhörnchen in deiner Jackenta- sche?“, wird Schulsekretärin Hilde ge- fragt, als sie durch die Tür tritt. Doch dann meldet sich der Hausmeister: Alles korrekt! Klasse 5c, geradeaus durch die Aula und gleich der Klassenraum rechts – er macht sich auf den Weg.
Vor Ort steht eine Gruppe Fünftklässler um einen Karton mit Luftlöchern. „Oohhhh, schade!“, macht die Klasse, als Nauschütz sich vorstellt. Er hebt behutsam den Deckel an und schaut auf das verängstigte Tier, das zwischen Blättern hockt. Er räuspert sich kurz, denn was nun kommt, ist ein wenig heikel: Einerseits ist es überaus lobenswert, wenn Kinder nicht einfach an verletzten oder hilflosen Tieren vorbeigehen. Andererseits werden die meisten Jungtiere, die scheinbar hilflos irgendwo herumsitzen, sehr wohl von den Elterntieren versorgt – wenn die Menschen nur weitergehen.
Fünftklässler retten Eichhörnchen
Barbara heißt das Mädchen, das das Eichhörnchenbaby auf der Straße gefunden und mit in die Klasse gebracht hat. „Nicht im Gebüsch?“, fragt Nauschütz nach. Nein, mitten auf der Straße. „Dann hast du völlig richtig gehandelt, denn sonst wäre es womöglich überfahren worden!“, sagt er, und nun muss die Klasse Abschied nehmen. Nauschütz steigt in seinen Sprinter, hält an der nächsten Polizeiwache, wo er einen Pinscher übernimmt, den ein Passant heute morgen auf dem Weg zur Arbeit eingefangen hat. Durch die Stadt geht es zurück. Er drückt ein wenig aufs Gas. „Wir wissen ja nicht, wann das Eichhörnchen zuletzt versorgt worden ist“, sagt er und wechselt beherzt auf die linke Spur.
Zurück im Tierheim, schreibt Nauschütz über jedes Tier einen Bericht. Es erhält für die EDV eine Nummer, wird von der diensthabenden Tierärztin untersucht. Der Pinscher zittert, als er auf den Untersuchungstisch gehoben wird, den Schwanz hat er fest zwischen seine Hinterläufe geklemmt. „Du hast Angst vor meinem Kittel?“, fragt Urte Inkmann und zieht ihren weißen, gestärkten Kittel aus. „Da geht es Tieren so wie Kindern.“ Sie horcht das Tier ab, schaut die Zähne nach. Okay – ein bisschen Zahnstein hat die Gute. Und – sie ist gechippt. Urte Inkmann scannt die Daten und schreibt die 15-stellige Ziffer auf.
Der Pinscher zittert mittlerweile etwas weniger, schnüffelt fast schon keck, wo er denn hier gelandet ist. Er kommt jetzt in eine Box; links Hunde, rechts Hunde. Seine Chancen stehen gut, dass noch heute sein Besitzer ermittelt und er bald abgeholt wird. Der nächste Einsatz steht an. Dies- mal geht es nordostwärts über Jenfeld nach Rahlstedt. Auf der dortigen Polizeiwache übergibt man ihm einen schwarz- grauen, sehr zerzausten Vogel samt Käfig. „Sind Besitzer oder Besitzerin bekannt?“, fragt Nauschütz. „Die Besitzerin ist verstorben“, sagt eine Polizistin.
Drei Stadtteile weiter – in Bramfeld – wartet wieder ein Hund auf ihn. Abgegeben, weil sein Besitzer ins Krankenhaus musste und niemanden hat, wo er ihn zwischendurch unterbringen kann. Ein älterer Mischling mit grauer Schnauze, der schon ein bisschen wackelig geht und der bereitwillig den Tierraum verlässt, den die Polizisten im Keller zwischen Asservatenkammer und Spurensicherungsraum eingerichtet haben. Nauschütz leint den Hund hinten auf der Ladefläche an, ergeben legt sich das Tier hin, die Schnauze flach auf dem Boden. Neben ihm die blaue Trage aus festem Stoff, auf der Nauschütz schon mal einen verirrten Seehund festgeschnallt hat.
„Auch wenn jemand in den Knast muss, übernehmen wir die Tiere“, erzählt er und startet erneut. Geholt wird er auch, wenn eine Wohnung zwangsgeräumt wird und Tiere vorhanden sind. „Solche Einsätze sind alles andere als angenehm.“ Aber was soll er machen? Und dann gäbe es noch das „Animal Hoarding“: eine psychische Krankheit, bei der Menschen Tiere sammeln wie der Messie Zeitungen oder Kleidungsstücke – bis alles aus dem Ruder läuft und die Nachbarn die Polizei holen. „Wir versuchen dann darauf hinzuwirken, dass die Leute wenigstens ein, zwei Tiere behalten dürfen. Aber meistens geht auch das nicht gut“, sagt Nauschütz.
Und zurück ins Tierheim und endlich Mittagspause. Danach ist erst mal nichts zu tun. „Manchmal kommst du hier kaum zum Atmen, dann wieder ist mit einem Schlag Ruhe.“ Er macht eine kleine Runde, er besucht die Tierpflegerin, die für die Versorgung der Jungtiere zuständig ist. Hingebungsvoll mischt sie Milch mit Fencheltee – ist wie bei Menschen gut für die Verdauung. Schräg über ihr lärmen zwei Katzenbabys in ihrem Käfig; fauchen sich an, raufen miteinander. „Geschwister“, sagt sie und lacht. „Die waren mal zu viert; alle völlig verwurmt.“ In einem Käfig hocken drei Chinchillas dicht aneinander gedrängt. „Keine Zeit“ steht auf dem Zettel unter „Grund der Abgabe“.
Nauschütz setzt sich draußen auf eine Bank, legt den Kopf in den Nacken, blickt über das Gelände. Vielleicht war es das für heute. Aber dann klingelt doch noch sein Handy, und jetzt muss es richtig schnell gehen: Eine Frau habe einen großen Hund aufgelesen, könne das Tier kaum halten. Schon sitzt er im Auto und dreht den Schlüssel um.
Diesmal geht es ostwärts Richtung Bergedorf. „Nun mach schon“, schimpft er halblaut, als vor ihm ein roter Polo die Steinbeker Hauptstraße entlang- kriecht. Eine Brücke kommt in Sicht und eine Frau, die heftig winkt, als sie das Rettungsmobil sieht. An der Leine zerrt ein halbes Kalb, ein buschiger Hirtenhund, der freundlichst mit dem Schwanz wedelt und kraftvoll bellt. Der Rüde ist der Frau vors Auto gelaufen, sie konnte rechtzeitig bremsen. Zum Glück hat sie selber Hunde und immer eine Leine im Kofferraum parat, und so hat sie das völlig fremde Tier beherzt angeleint. Nauschütz tätschelt das Tier, wechselt die Leine, glücklich eilt die Frau zurück zu ihrem Auto.
Auch der Hirtenhund wird untersucht, er ist in einem klasse Zustand, er hält wunderbar still und auch er ist gechippt. „Du bist ja ein putziger Vogel“, lobt ihn die Tierärztin, kämmt probeweise sein Fell durch – auch Flöhe hat er keine. Auch bei ihm dürfte schon bald Besitzer oder Besitzerin vorbei- kommen, so wie die Pinscherdame zwi- schenzeitlich abgeholt worden ist: Eine Kehrmaschine hatte das Tier beim morgendlichen Gassi-Gehen so er- schreckt, dass es Reißaus nahm.
Bleibt noch die Schlange. Bleibt noch der struppige Vogel – und das Eichhörnchenjunge. Das liegt in einem Kasten, mit weichem Stoff abgedeckt, von unten durch ein Kissen gewärmt, das man in der Mikrowelle warm machen kann. Es wird regelmäßig Milch aus einer Spritze bekommen, wird später nach und nach mit Nussmischung aus dem Supermarkt aufgepäppelt. Bis es groß genug ist, um irgendwo am Stadtrand von Hamburg ausgewildert zu werden. Wenn alles gut geht, wird es sich bald weder an die Tierpflegerin, noch an die Tierärztin und auch nicht an Heiko Nauschütz und sein Rettungs- mobil „Struppi 1“ erinnern. Und so soll es ja auch sein.
Text: Frank Keil
Fotos: Evgeny Makarov