Viele Menschen begehen in ihrer Jugend eine Straftat. Doch dauerhaft kriminell werden nur die wenigsten. Das hat weniger mit harten Strafen zu tun als mit einem guten Einfluss von Familie, Freunden oder Schule. Diese und weitere Erkenntnisse liefert die Langzeit-Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“. Wie sie einzuordnen ist, erklärt Joachim Katz, langjähriger Hamburger Jugendrichter, im Hinz&Kunzt-Interview.
(aus Hinz&Kunzt 257/Juli 2014)
Hinz&Kunzt: Herr Katz, wenn man die Aussage der Studie in einem Satz zusammenfasst, könnte man sagen: Kriminalität bei jungen Menschen wächst sich meist von alleine aus. Ist Jugendkriminalität also gar kein so großes Problem, wie oft behauptet wird?
Joachim Katz: Wenn man nur sieht, was und wie Medien berichten, erscheint Jugendkriminalität als viel größeres Problem, als sie es tatsächlich ist. Journalisten geht es oft um Auflage, aber nicht um Objektivität. Infolge dieser Berichte entsteht eine Angst, die so nicht begründet ist. Das bedeutet nicht, dass ich Kriminalität verharmlosen will. Jede Straftat ist eine Straftat zu viel.
Welchen Wert hat die neue Studie?
Sie bestätigt Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen, die gezeigt haben: Es gibt einen hohen Prozentsatz von Jugendlichen, egal ob Jungen oder Mädchen, die im Alter zwischen 14 und 18 mindestens eine, auch mal mehrere Straftaten im Bagatellbereich begehen und das dann einfach wieder lassen. Dieses Wissen führte in Deutschland in den 1980er-Jahren zu einer drastischen Änderung der Jugendkriminalpolitik. Vorher dachten viele: Wir müssen möglichst früh möglichst hart reagieren, um Jugendliche davon abzuhalten, kriminell zu werden. In Berlin gab es beispielsweise mal die Vorgabe: Jeder Ladendiebstahl, bei dem der Wert des Diebesguts zehn D-Mark übersteigt, soll vor Gericht gebracht werden. Dann kam ein radikales Umdenken: Warum sollen wir jedes Bagatelldelikt anklagen, wenn wir wissen, dass 80 bis 90 Prozent der Straftäter von selbst wieder aufhören? Das führte dazu, dass die Staatsanwaltschaft diese Verfahren bei Ersttätern in der Regel eingestellt hat. Das ist nicht nur kriminalpolitisch vernünftig, sondern spart auch Ressourcen.
Was lässt sich aus den Ergebnissen der Studie denn dann noch lernen?
Es ist die erste Langzeitstudie in Deutschland, die sich auch mit der Entwicklung sogenannter Intensivtäter befasst – jungen Menschen, die über einen längeren Zeitraum massive Straftaten begehen. Laut Studie machen sie nur sechs bis acht Prozent aller jugendlichen Straftäter aus, sind jedoch für mehr als die Hälfte aller Taten verantwortlich und sogar für mehr als drei Viertel aller Gewaltdelikte …
Und da sagen die Autoren der Studie, dass viele Intensivtäter – wenn zum Teil auch erst spät – im Laufe der Jahre deutlich weniger oder gar nicht mehr kriminell werden, wenn sie stabile soziale Bindungen aufbauen können und einen Job oder eine Ausbildung finden?
Richtig, das hat nun erstmals eine Studie bestätigt. Aus der Praxis wussten wir das schon. Ich habe als Jugendrichter ja auch „meine“ Intensivtäter gehabt und sie irgendwann nicht mehr gesehen. Da habe ich schon immer mal nachgeschaut, ob die als Erwachsene wieder straffällig geworden sind. Das war aber nur selten der Fall. Manchmal habe ich auch einen auf der Straße getroffen, mit Frau und Kinderwagen, der mir bestätigte: „Nee, das ist lange vorbei.“
Was können wir tun, damit Jugendliche gar nicht erst kriminell werden?
Wir müssen uns noch intensiver mit den Ursachen von Jugendkriminalität beschäftigen. Jugendliche sind nichts anderes als Kinder unserer Gesellschaft, die uns einen Spiegel vorhalten. Wer zu Hause immer wieder Schläge erlebt hat, kann Konflikte nur noch gewaltsam lösen, weil er es nur so gelernt hat. Und es ist ja längst bekannt: Bildung hilft bei der Vermeidung von Kriminalität. Schulen haben eine ganz wichtige Aufgabe bei der Sozialisierung junger Menschen – vor allem da, wo Eltern dazu, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind. Darauf sind viele Schulen aber nicht vorbereitet, und dafür haben sie auch zu wenige Ressourcen. Wir brauchen zum Beispiel Sozialarbeiter an allen Schulen, nicht nur an Inklusionsschulen. Und wir müssen uns überlegen, wie wir auch denen zu Erfolgen verhelfen können, die im heutigen Schulsystem nicht mitkommen und rausfallen, weil sie es einfach nicht schaffen. Von den skandinavischen Ländern können wir da viel lernen. Deutschland liegt beim Vergleich der Mittel, die Industriestaaten in Bildung investieren, ziemlich am Schluss. Hier wird zwar viel geredet – aber wenig getan.
Interview: Ulrich Jonas
Foto: Mauricio Bustamante
Für die Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“ haben Forscher 13 Jahre lang jährlich 3400 Jugendliche aus Duisburg anonym befragt. Zu Beginn waren die Jugendlichen 13 Jahre alt. Die Forscher befragten sie nach ihren Werten, ihrem Verhalten und nach begangenen Straftaten. Die Angaben verglichen sie mit Einträgen in Vorstrafenregistern, sodass sowohl angezeigte wie nicht geahndete Taten erfasst wurden. Mehr Infos finden Sie im Internet unter www.krimstadt.de