Obdachloser Ex-Profi :
Vom Stadion auf die Straße

Jede Fußballer-Karriere endet irgendwann. Das war Hristo Toshev auch schon klar, als er noch bulgarischer Profitorhüter war. Doch dass er einmal auf Hamburgs Straßen landen und Hinz&Kunzt verkaufen würde, hätte der 53-Jährige nie gedacht.

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Früher hat Hristo Toshev als Profi im Volksparkstadion gespielt, heute sammelt er Flaschen am Millerntor.

Früher, da war die Welt im Volkspark noch in Ordnung. Gespielt wurde in einem Stadion, das den Namen des umliegenden Parks und nicht wechselnder Sponsoren trug. Abstiegssorge war ein Fremdwort, das beim Hamburger SV niemand buchstabieren konnte. Und auf dem Platz rackerten Spieler wie Manni Kaltz, Thomas von Heesen und Benno Möhlmann.

Ihnen gegenüber stand Hristo Toshev. 29 Jahre jung. Torhüter des aufstrebenden bulgarischen Zweitligisten FK Hebar Pasardschik. Das war Anfang 1989. „Unser Sponsor hatte uns zu einem Trainingslager nach Hamburg eingeladen“, erinnert sich der 53-Jährige. Es war eine gute Zeit. Hristo lebte mit seiner Frau und seinen drei Kindern im Eigenheim. Und der Älteste hatte auch schon die Torwarthandschuhe übergestreift. „Er hat später sogar in der Juniorennationalmannschaft gespielt“, erzählt Hristo.

Seine Augen leuchten vor Stolz. Auch für ihn lief es damals sportlich perfekt: „Wir führten die Tabelle mit großem Vorsprung an und waren zu Hause noch ungeschlagen.“ Nicht nur das: Im landesweiten Pokal war der FK Hebar Pasardschik sogar ins Viertelfinale eingezogen. So hätte es immer weitergehen können.

Doch es kam anders. Heute lebt Hristo in Hamburg. Ohne Wohnung, ohne Arbeit und ohne Geld. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen. Zu seinen Kindern hat er nur noch wenig Kontakt. „Ich habe all mein Geld verloren“, sagt der Bulgare. „Aber so ist das Leben.“ Den Winter hat Hristo in einer Notunterkunft in Horn verbracht. Derzeit schläft er bei Bekannten oder auf der Straße. Tagsüber verkauft er Hinz&Kunzt.

Aber nur unter der Woche. An den Wochenenden kehrt Hristo zurück zum Fußball. In den Volkspark oder eben auch ans Millerntor. Ausgerüstet mit Plastiktüten und Einkaufswagen. Vor den Einlasstoren ist für ihn Endstation. „Ich sammle Pfand“, erläutert Hristo. „Das ist auch Arbeit. Du musst wissen, wie das geht.“

Zusammen mit zwei Bekannten aus Bulgarien hat Hristo schon Stunden vor dem Anpfiff drei Einkaufswagen vor dem Eingang zur Südkurve postiert. 29.063 Zuschauer werden heute ins Millerntor strömen. Hristo und seine Helfer haben allerdings nur Augen für das Pfandgut. Sie sammeln ein, was die Fans auf dem Vorplatz achtlos stehen lassen. Die meiste Zeit aber ordnen sie die Flaschen: Denn viele Fans lassen im Vorbeigehen ihr Leergut in die Wagen gleiten. Die Sammler wiederum achten darauf, dass keine Scherben oder pfandfreie Flaschen dort landen. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Früher hat er mit seinen Händen Bälle gecatcht, heute greift er damit Flaschen.

Hristo unterbricht das Treiben für eine kurze, aber herzliche Begrüßung in einem munteren Mischmasch aus Englisch und Bulgarisch. Deutsch spricht Hristo nur bruchstückhaft. Aber er weiß sich zu helfen. Einer der Flaschensammler wird als Dolmetscher herangezogen. „Deutsch ist schwer“, lässt Hristo übersetzen. „Und ich spreche schon Bulgarisch, Russisch, Serbisch, Koreanisch und Englisch.“ Unsicherheit lässt er nicht aufkommen.

Auch sein Händedruck ist kräftig. Sehr kräftig. Man ist froh, wenn seine Pranken die Hand wieder freigeben. Früher hat er damit Bälle gecatcht, heute greift er damit Flaschen – und bewegt sich auf der Suche danach gekonnt durch die Menschenmassen. Niemand achtet auf ihn. Mit seinen 1,90 Metern überblickt er das Geschehen und sammelt das Pfandgut fast schon reflexartig ein, um es anschließend in einem der Einkaufswagen abzuladen.

Warum dieser Ehrgeiz? „Ich habe in Pasardschik ein Haus und ein Auto, aber beides gehört derzeit der Bank.“ Monatlich versucht er einen kleinen Teil der Summe abzustottern. Es sind Schulden, die sich erst in den vergangenen Jahren angehäuft haben, die aber aus dem ehemaligen Profifußballer einen armen Mann gemacht haben. „Dass ich durchhalte und nicht aufgebe, habe ich dem Fußball zu verdanken“, so Hristo. „Im Verein habe ich Disziplin, aber auch Kämpfen gelernt.“

„Ich habe weit über 200 Profispiele gemacht.“

Hristo blickt auf eine lange Karriere zurück: Bereits mit 22 Jahren schaffte er bei seinem Heimatverein FK Hebar Pasardschik den Sprung in den Profikader: Zehn Jahre lang stand er in der ersten und zweiten bulgarischen Liga für die Vereine aus Pasardschik, Targowischte und Schumen zwischen den Pfosten. „Ich gehöre zu den wenigen Spielern, die weit über 200 Profispiele gemacht haben“, erzählt Hristo und strahlt dabei über das ganze Gesicht.

Seine erfolgreiche Ära erlebte Hristo Anfang der 1990er-Jahre: Pasardschik lag kurzfristig auf Augenhöhe mit Vereinen wie Levski und ZSKA Sofia. Aber Kontinuität war kaum möglich. Zahlreiche Fußballer wechselten nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes ins Ausland. Auch der Hamburger SV griff damals zu und verpflichtete mit Jordan Letschkow und dem späteren Mannschaftskapitän Petar Hubchev gleich zwei bulgarische Nationalspieler. „Petar Hubchev kenne ich noch gut“, sagt Hristo. „Er ist jünger als ich, aber wir haben früher gegeneinander gespielt.“

Es war zugleich die Zeit, als der asiatische Fußball mit viel Geld Profispieler aus den besten Ligen Europas anlockte: Guido Buchwald, Pierre Littbarski oder auch Gary Lineker wechselten damals in die japanische J-League. 1993 klopfte auch bei Hristo ein Spielervermittler an. Das Angebot: ein Jahresvertrag bei den Yukong Elephants. Die kickten in der K-League in Korea, die vermutlich nur Kennern des asiatischen Fußballs ein Begriff ist. Für Hristo war es aber auch so eine neue Welt voller Glanz und Glamour. „Bei der Begrüßung in Seoul standen Kamerateams und ganz viele Journalisten bereit“, erinnert sich Hristo. „Alle haben nur auf meine Ankunft gewartet.“

Sein Vertrag wurde ihm in drei Sprachen ausgefertigt: koreanisch, englisch und bulgarisch. Und der war ordentlich dotiert. „Nach nur einer Saison hatte ich viel Geld auf dem Konto“, erzählt Hristo. Er fuhr einen Dodge, lebte in einer riesigen Wohnung. Wirklich angekommen in Seoul ist Hristo trotzdem nie: „Das Training war sehr hart. Ganz anders als in Bulgarien. Und ich war längst nicht mehr der Jüngste.“

„Ich bin ich. Ich bleibe selbstbewusst und gebe nicht auf.“

Auch der sportliche Erfolg mit den Yukong Elephants blieb aus. Der Abschied nach einem Jahr fiel ihm schließlich nicht schwer. Zurück in Pasardschik war Hristo ein gefragter Mann. Allerdings nur aufgrund seines Reichtums. Auf einmal waren einige Freunde äußerst hilfsbereit und drängten ihn dazu, sein Geld anzulegen. Nach drei Monaten war alles weg. Wie das möglich war? Korruption und mafiöse Strukturen in Bulgarien seien schuld, glaubt Hristo. Andere würden in solch einem Moment sicherlich den Kopf in den Sand stecken. Hristo aber funktioniert anders: „Ich bin ich. Ich bleibe selbstbewusst und gebe nicht auf.“

Er spielte weiter Fußball. Verdiente Geld und stieg drei Jahre später nach seinem endgültigen Karriereende in die Modebranche ein. Sein Bekleidungsvertrieb lief nicht schlecht. Bis schließlich 2008 die Finanzkrise auch Bulgarien erreichte. „Die Leute hatten plötzlich kaum noch Kohle, um sich neue Klamotten zu kaufen“, erinnert sich Hristo. Irgendwann konnte er die Kredite nicht mehr bedienen. Als dann noch ein Kumpel mit umgerechnet 10.000 Euro, die Hristo ihm geliehen hatte, durchbrannte, stand er auf einmal vor dem Nichts.

„Damals haben viele ihren Weg alleine gesucht und so versucht, der Krise zu entkommen“, sagt Hristo. Es soll wohl erklären, warum seine Familie zerbrach. Seine Frau ging nach Montreal in Kanada. Seinen Sohn Slavcho, der ebenfalls erfolgreicher Torwart in Bulgarien war, hat er zuletzt vor zwei Jahren gesehen. „Ich will ihn bald besuchen“, sagt Hristo. Aber ihm fehlt das Geld. Deswegen verkauft er weiterhin täglich Hinz&Kunzt und sammelt Flaschen, wo sich Möglichkeiten bieten. „Wenn ich meine Schulden zurückbezahlt habe, wird es leichter“, hofft Hristo. „Früher habe ich in Fünf-Sterne-Hotels geschlafen. Jetzt schlafe ich unter einer Brücke. C’est la vie.“

Text: Jonas Füllner
Fotos: Mauricio Bustamante