Unerträglich findet Dr. Peter Ostendorf die Situation von Menschen ohne Krankenversicherung. In seiner neuen Praxis helfen er und andere Hamburger Ärzte Kranken unbürokratisch – und fragen niemanden, wer er ist, woher er kommt oder ob er da sein darf.
(aus Hinz&Kunzt 256/Juni 2014)
Sein größter Wunsch wäre es, überflüssig zu sein. Dass man ihn einfach nicht mehr braucht. Dass er aufhören kann. Aber Peter Ostendorf weiß: Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Möglicherweise einer, dessen Ende er nicht mehr erleben wird. Er ist jetzt 75. Zu einem Zeitpunkt, an dem andere das Rentnerdasein genießen, hat er im April den Neustart gewagt und seine eigene Praxis eröffnet. Die Praxis ohne Grenzen. Am Empfang wird niemand nach seinem Namen gefragt und auch nicht nach der Versicherungskarte. Denn die, die zu ihm kommen, sind nicht versichert. Sie sind arm. Und krank. Die meisten schämen sich.
Fast 30 Jahre lang war Ostendorf Chefarzt am Marienkrankenhaus. Als Internist hatte er dort mit Privatpatienten zu tun, die eben das Beste für ihre Gesundheit wollten und sich das auch leisten konnten. Trotzdem: „Ich habe immer wieder von Menschen gehört, die nicht zum Arzt gehen können, weil sie nicht versichert sind.“ In Hamburg, so schätzt der Mediziner, leben mehrere Tausend Menschen ohne Versicherung. Nicht nur die Flüchtlinge und Obdachlosen, sondern auch Selbstständige, die sich selbst versichern müssten und das nicht bezahlen können. „Ich bin Zeit meines Lebens privilegiert gewesen. Erst durch das Studium, dann durch den Beruf als Mediziner“, so der gebürtige Hamburger. „Ich möchte etwas zurückgeben. Und wenn ich damit jetzt nicht anfange, wann dann?“
Die Einrichtung seiner Praxis hat er „kostenneutral“ gestaltet.
Räume für seine Praxis hat der Mediziner schnell gefunden – im Seniorenheim von Pflegen & Wohnen in Horn. Zwei Räume hat Leiter Withold Lesner zur Verfügung gestellt. Es gibt einen Wartebereich, ein Besprechungszimmer und einen Behandlungsraum. Bezahlen muss Peter Ostendorf dafür nichts. Und auch die Einrichtung seiner Praxis hat der 75-Jährige „kostenneutral“ gestaltet: „Das Marienkrankenhaus hat mir die Einrichtung seiner ausgemusterten Intensivstation zur Verfügung gestellt. Sonst wären die Möbel auf dem Müll gelandet, so erfüllen sie noch einen guten Zweck.“
Mit zwei Möbelpackern machte sich Peter Ostendorf an die Arbeit: Stühle, Schränke, Liegen – das alles kam erst auf einen Lkw und anschließend in seine neuen Räume. Sogar die Seifenspender hat Ostendorf abmontiert. Aber er musste auch einiges neu anschaffen. Zum Beispiel ein Sonografie-Gerät. Finanziert durch Spenden – und durch Unterstützung der Industrie: „Ich war überwältigt, wie viel Rabatt mir die Hersteller medizinischer Geräte gewährt haben, als sie hörten, wofür ich die Sachen brauche.“
Mit ihm zusammen werden neun Internisten, fünf Urologen und fünf Gynäkologen sowie sechs Krankenschwestern in der Praxis ohne Grenzen arbeiten. Ebenfalls ehrenamtlich. Vor allem, schätzt Peter Ostendorf, wird es um akute Fälle gehen. Infektionen, Wundversorgung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aber was ist, wenn er Patienten überweisen muss? Oder Operationen anstehen? „Da weiß ich auch keine Lösung“, gibt der Mediziner zu. Er wird mit den Kliniken verhandeln müssen, er hat ja gute Kontakte: „Vielleicht können die einige Operationen ohne Bezahlung durchführen.“ Die Medikamente stammen ebenfalls aus Spenden, allerdings darf er nur Medikamente annehmen, die von Apotheken abgegeben werden, nicht von Privatpersonen.
Die Situation von Menschen ohne Krankenversicherung ist unerträglich und muss sich ändern.
Private Fragen mag der 75-Jährige gar nicht, und im Mittelpunkt steht er auch nicht gern. Zur offiziellen Praxiseröffnung Ende April kamen rund 50 Leute in die Aula des Pflegeheims am Bauerberg. Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks war auch dabei und fand warme Worte für die Praxis ohne Grenzen – obwohl es streng genommen verboten ist, in Deutschland ohne Krankenversicherung zu leben. Es wurden Getränke gereicht, Häppchen standen bereit. Schüchtern hat Peter Ostendorf da gewirkt, fast verloren zwischen all den Menschen, die ihm für seine Idee gratulieren wollten. Dabei, so sagt er, habe er doch nur die Augen aufgemacht und festgestellt: Die Situation von Menschen ohne Krankenversicherung ist unerträglich und muss sich ändern.
Zunächst soll die Praxis einmal in der Woche öffnen, immer mittwochs zwischen 15 und 18 Uhr. Zum ersten Termin kamen zwölf Patienten – mehr als der Arzt erwartet hatte. Peter Ostendorf: „Wenn unser Angebot gut angenommen wird, erweitern wir die Sprechzeiten natürlich!“
Text: Birgit Stamerjohans
Foto: Mauricio Bustamante
Praxis ohne Grenzen, Bauerberg 10 (im Seniorenheim von Pflegen & Wohnen), geöffnet mittwochs, 15–18 Uhr. Informationen zum Verein unter Telefon 30 96 51 34