Sandra und Sascha haben schon manchen Tiefschlag kassieren müssen. Beim Boxtraining machten die beiden Hinz&Künztler jetzt eine ganz neue Erfahrung: Auch beim Kämpfen kann es fair zugehen – wenn sich alle an die Regeln halten
(aus Hinz&Kunzt 202/Dezember 2009)
Sascha sieht schwarz. Mit schmalen Augen blickt er über die Boxhandschuhe, in denen seine Fäuste stecken, auf Boxtrainer Frank Rieth, der einen Meter vor ihm steht. „Schlag auf meinen Boxhandschuh!“, ruft der Trainer durch die Halle und hebt die Faust. Sascha holt aus – der Trainer tritt einen Schritt zurück – Sascha verfehlt. „Fuck!“, ruft er. „Macht nichts, weitermachen!“ Sascha haut noch einmal auf das schwarze Ziel vor seinen Augen – und trifft. „Gut“, sagt Frank. „Jetzt die Lady.“
Sandra kommt aus der Ecke des Raums, der Trainer hebt die Faust – „Schlag drauf!“ – und geht auf sie zu, Sandra weicht zurück. „Du musst beweglich bleiben!“, sagt Frank. Sandra bleibt stehen, schnellt nach vorne und trifft. „Ja!“, ruft der Trainer.
Sascha steht daneben und lacht. Seit einer halben Stunde ist er mit Sandra im Training. Frank Rieth hat sich bereit erklärt, in seinem Sportstudio Agon in Winterhude für Hinz&Kunzt-Verkäufer eine Boxstunde zu geben. Sascha ist verblüfft: „Als ich den Trainer gesehen habe, dachte ich:
Wo ist denn der Boxer? Er ist so klein und schmal, ich dachte, den mach ich mit links platt. Von wegen, ich komm nicht mal an ihn ran.“ Das weckt seinen Ehrgeiz. Eine halbe Stunde zuvor: „Wir versuchen erst mal gegenseitig, uns an die Schulter und die Oberschenkel zu ticken“, sagt Frank. Sascha haut ihm voll auf die Schulter. „Ticken, nicht zerschmettern!“, ruft Frank. Sascha schlägt leichter zu und lacht, wenn er die Schulter verfehlt oder selbst getroffen wird. „Das macht Spaß!“, sagt er. „Wenn der Trainer mich erwischt, stachelt mich das an, schneller zu sein, besser in Deckung zu gehen und ihn zu kriegen, bevor er mich kriegt.“
Normalerweise laufen die Tage der beiden immer gleich ab: „Morgens Hefte holen, zum Alsterhaus am Jungfernstieg gehen, Zeitungen verkaufen und den Leuten die Tür aufhalten“, zählt Sascha auf. An diesem Morgen ist es anders.
Sandra und Sascha machen Hampelmänner: Arme über den Kopf, Beine auseinander.
„Und stopp!“, ruft Frank nach einer Minute. Sandra holt laut Luft. Rauchen, Alkohol und das Leben auf der Straße sind an ihr nicht spurlos vorbeigegangen. „Mir tut die Lunge weh, die Beine, die Arme, alles. Ich hab in den letzten Jahren echt abgebaut. Aber es tut gut, mal den ganzen Frust rauszulassen.“
Sascha steht japsend neben ihr und lässt die Zunge heraushängen. Eine silberne Piercing-Kugel blitzt darauf. Andere Insignien des Punks, seine silbernen Ketten, das Lederhalsband mit den Nieten, die Ringe, liegen in der Umkleidekabine. „Punksein heißt für mich, zu leben wie ich will, frei und unabhängig sein“, sagte er. „Ich lasse mir nichts sagen.“ Normalerweise.
Vom Trainer schon. „Auf den Boden legen und Arme abwechselnd nach vorne und hinten schwingen“, ruft Frank. Sascha stöhnt – und macht es. „Mann, ich schwitze, ey“, ächzt er danach. „Jedes Gift, das du dir in den letzten Wochen reingepfiffen hast, kommt jetzt raus“, sagt Frank.
Sascha trinkt jeden Tag mehrere Flaschen Bier. Bis vor Kurzem hat er auch Wodka getrunken, manchmal eine ganze Flasche. Dann kam eine Anzeige in die Notunterkunft. „Ich soll eine Frau geschlagen haben“, sagt Sascha. „Das hat mich geschockt. Ich kann mich gar nicht daran erinnern.“ Seitdem trinkt er keine harten Sachen mehr. „Mit dem Hart-Alk bin ich oft aggressiv geworden. Da höre ich lieber damit auf.“ Inzwischen wurde die Anzeige fallen gelassen.
Jetzt blickt er wieder über seine Boxhandschuhe und sieht Sandra. In seinem Augenwinkel steht Frank. Der 47-Jährige gibt ein neues Kommando: „Ihr tickt euch jetzt gegenseitig mit den Boxhandschuhen an, immer abwechselnd links, rechts, links, rechts.“ Vorsichtig beginnen die beiden, ihre Boxhandschuhe berühren sich, erst langsam, dann immer schneller. „Sandra hat voll den anderen Rhythmus als ich“, sagt er.
„Beim Boxen lernst du Respekt vor dem anderen“, sagt Frank. Regelmäßig geht der Trainer für das Hamburger Projekt Box-Out in Schulen. „Die können dort nicht mehr kämpfen, die können oft nur noch plattmachen“, sagt er. Die Großen auf die Kleinen, drei auf einen – „wir haben das Kämpfen aus unserer Gesellschaft verdrängt und deshalb wissen die Kinder nicht mehr, was Fairness ist.“
Sandra würde auch gerne mit Kindern arbeiten. Die 20-Jährige hatte sich gerade für eine Lehrstelle als sozialpädagogische Assistentin beworben. Sie bekam die Stelle nicht, weil sie keine feste Unterkunft hat. Jetzt schaut sie zu, wie Sascha wieder boxt und kraftvolle, präzise Schläge setzt. Frank streckt seine Hände aus: „Lass deine Arme vor dem Körper! Du musst dich schützen!“ Sascha nickt.
Mit acht Jahren wurde er von der Polizei aus seinem Zuhause in Aachen geholt, weil sein Stiefvater ihn fast täglich verprügelte. Aus dem Heim riss er immer wieder aus, lebte ab 16 ganz auf der Straße, bis er vor einem halben Jahr wieder nach Hamburg kam – und zu Hinz&Kunzt.Dort war Sandra. Mit 18 hatte sie ihre Heimatstadt Essen verlassen. Jahrelang hatte ihr sechs Jahre älterer Bruder sie geschlagen. Nun liegt sie auf dem Boden der Boxhalle und streckt die Arme aus. „Meine Arme werden schwer!“, ruft Sascha. „Weiter! Nicht aufgeben!“, ruft Frank. „Das lernst du beim Boxen fürs Leben: Mit Selbstdisziplin kannst du deinen Weg machen.“
Sascha stützt sich hechelnd auf seine Knie. „Wie lange müsste ich herkommen, damit ich fit bin?“, fragt er. „Wenn du regelmäßig kommst, gewöhnst du dich daran“, sagt Frank. Sascha ist nachdenklich: „Nach dem Training habe ich gespürt, dass ich überhaupt noch lebe.“
Seine Ketten und das Lederhalsband hat Sascha wieder umgelegt. „Das Schönste in der Stunde war“, sagt er, „als ich schlagen durfte, ohne jemanden zu verletzen. Einfach meine Kraft beweisen konnte.“
Text: Joachim Wehnelt
Foto: Mauricio Bustamante