Es ist eine merkwürdige Stimmung, an diesem 1. April. Das Winternotprogramm endet, mehr als 700 Menschen verlieren heute ihren Schlafplatz. Wir haben uns vor der Spaldingstraße 1 postiert. 230 Menschen haben im Winter täglich in dem Hochhaus übernachtet. Einzeln oder in kleinen Gruppen treten sie vor die Tür, die einen mit Plastiktüren beladen, die anderen mit Rollkoffern. Ein Scheißtag. Für die Menschen, die ab heute wieder auf der Straße schlafen, und für die Sozialarbeiter, die nicht helfen können.
Zwei Männer, Mitte 50, haben sich mit ihren Taschen auf der Türschwelle eines Hauses niedergelassen. „Heute morgen haben sie uns vor die Tür gesetzt, ein ganz mieser Aprilscherz“, findet der eine und zuckt nur die Achseln. Ob es eine Beratung gegeben habe? Ja, da sei eine Sachbearbeiterin gewesen. „Aber dazu wurden wir nicht eingeladen“, sagt der Mann, der anonym bleiben will. Wo sie heute Abend schlafen? „Keine Ahnung. Ein Hotel können wir uns jedenfalls nicht leisten, da bleibt nur noch die Parkbank Nummer 7.“
Schweren Schrittes verlässt Negga Eyob die Spaldingstraße 1. Seit November war ein Mehrbettzimmer in dem Hochhaus eine Art Zuflucht. Müde schleppt er sich und seinen roten Koffer eine Ecke weiter ins Café Exil. Auch er hat keine Ahnung, wo er heute Nacht schlafen wird. Er weiß noch nicht mal, wo er seinen Koffer deponieren könnte. Der 64-Jährige stammt ursprünglich aus Eritrea, hat in Hamburg aber mehr als 20 Jahre als Erzieher gearbeitet. Im Jahr 2000 bekam er die Diagnose Krebs. Unheilbar. „Da ist mein Leben entgleist“, sagt Negga Eyob. Er dachte, er würde sterben, trank immer mehr und wurde drogenabhängig. Er verlor seine Wohnung, seine Freunde, alles. „Aber ich lebe noch“, sagt er bitter. „Ich bin vom Tod enttäuscht.“
Für ein paar Minuten kann er sich Café Exil ausruhen, helfen kann man ihm dort auch nicht. „Wir sind gar nicht auf Obdachlose spezialisiert, sondern auf Migranten und Flüchtlinge“, sagt Steffi. Aber selbst wenn sie es könnte: Alle Unterkünfte sind dicht, der Leiter des städtischen Unterkunftsbetreibers fördern und wohnen sagte uns sogar in einem Interview, dass es – wenn überhaupt – nur noch Plätze für Härtefälle gebe. Negga Eyob ist zwar ein Härtefall und als Hartz-IV-Empfänger auch einer mit Rechtsanspruch, aber auch das nützt anscheinend nichts mehr. Die Situation ist so schlimm wie nie. Das Allerschlimmste: Immer mehr Obdachlose sind resigniert, versuchen es einfach nur noch auszuhalten, dass sie keine Perspektive mehr sehen. Und die Sozialarbeiter? „Es fällt uns schwer, unter diesen Bedingungen überhaupt noch zu arbeiten“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.
Bildergalerie: Ende Winternotprogramm
20 Jahre hat Negga Eyob als Erzieher in Hamburg gearbeitet. Vor 14 Jahren bekam er die Diagnose Krebs. Unheilbar. „Da ist mein Leben entgleist.“
Ismail C. hat 49 Jahre in Hamburg gearbeitet. Jetzt ist der 78-jährige Rentner obdachlos. Er hofft, im Pik As ein Bett zu bekommen. Was er nicht weiß: Es kann sein, dass er auf dem Boden schlafen muss.
Falko (25) will nicht aufgeben. Zusammen mit drei Freunden sucht der Hinz&Kunzt-Verkäufer nach einem Zeltplatz. Auch wenn er weiß: Platte machen ist kein Campingurlaub.
Stefania hat eine Verletzung am Bein: „Ich kann nicht auf der Straße schlafen“, sagt die 59-Jährige. Zusammen mit Alexander (27) sucht sie nach einer Bleibe.
Da ist es fast wohltuend, dass ein afrikanischer Obdachloser seine Verzweiflung offen zeigt. Der gepflegte Mann, vielleicht einer der Lampedusa-Flüchtlinge, kommt auf uns zu: „Please, can you help me?“, fragt er panisch. Auch er weiß nicht, wohin jetzt.
Ein Freund legt den Arm um ihn. Was er sagt, verstehen wir nicht. Vermutlich etwas in der Art: „Komm, beruhig dich! Wird schon!“
Eigentlich ist ja schon Frühling, aber morgens und nachts ist es noch ganz schön kalt. Ich in meinem Wintermantel bin langsam durchgefroren. Ismail C. ist nur mit einem dünnen Anzug bekleidet, er wirkt fast elegant. Daran ändern auch die Plastiktüten nichts. 49 Jahre hat der Mann aus Izmir in Deutschland gearbeitet, unter anderem im Haus der Jugend. Heute bezieht der 78-Jährige Rente. Aber irgendetwas ging schief mit seiner Wohnung. Ja, er habe auch andere Angebote bekommen, aber das seien immer Wohnungen gewesen, die ihm zu teuer waren. Von seiner Rente habe er die nicht bezahlen können. Für uns ist er eine Art Exot: Wir haben bislang in unserer 20-jährigen Geschichte kaum Türken als Obdachlose erlebt. Ismail C. strahlt Optimismus aus. Er solle ins Pik As gehen, habe man ihm gesagt, dort gebe es ein Bett für ihn. Was er nicht weiß: Das ist der Ratschlag, den hier alle bekommen. Das Pik As ist schließlich Hamburgs Notunterkunft. Abgewiesen werden darf hier vorerst niemand, es sei denn die Polizei und Feuerwehr schließen aus Sicherheitsgründen. Oder ein Obdachloser hat wieder „keinen Rechtsanspruch“. Die Befürchtung von Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer: „Ab heute Nacht werden im Pik As wieder Menschen auf den Fluren schlafen.“ So wie im vergangenen Jahr, als bis zu 400 Obdachlose im Pik As schliefen, das normalerweise Platz für 260 bietet. Sogar auf den Fluren und unter Tischen lagen die Menschen. So sollte es eigentlich nie wieder werden.
Auch für die Mitarbeiter von fördern und wohnen ist heute letzter Arbeitstag in der Spaldingstraße. Eine Mitarbeiterin steht draußen: Mit Handschlag verabschieden sich die ehemaligen Bewohner von ihr und den Männern und Frauen des Sicherheitsdienstes. Manche nimmt sie in den Arm und wünscht ihnen Glück. Ein Bulgare möchte zum Abschied ein Foto machen. Die Mitarbeiterin seufzt: „Ich glaube, uns allen fällt es schwer, die Menschen so gehen zu lassen.“ Ein alter Mann auf Krücken verlässt das Gebäude. „Pass auf dich auf!“, ruft sie ihm hinterher. Es tut ihr weh, dass für ihn kein Platz gefunden wurde, auch wenn er „keinen rechtlichen Anspruch hat“. Genauso wenig wie für den Mann mit dem Bollerwagen, in dem ordentlich das Gepäck gestapelt liegt.
Einigermaßen gut gelaunt wirken an diesem Morgen nur Falko (25), Steffen (Mitte 50), Markus (35) und Patricia (seit heute 43). Sie haben es sich vor den Mülltonnen bequem gemacht und packen erst mal in Ruhe, trinken Bier und Cola. Sie wirken ganz entspannt. Patricia und ihr Freund Markus fanden es ganz gut in der Spaldingstraße, zumal sie zum Schluss ein Pärchenzimmer hatten – und ihr Hund Ramstein durfte auch mit dabei sein. Und sie haben Steffen und Falko kennen gelernt. Mit denen wollen sie jetzt zusammen Platte machen. „Wir versuchen, einen Zeltplatz zu finden. Und wenn nicht, dann schlagen wir unsere Zelte eben in einem Park auf“, sagt Patricia. Ihre Wohnung haben die beiden verloren. Markus war früher Tankwart, mit Leib und Seele. Auch den Job hat er verloren, das aber schon vor Jahr und Tag. „Alkohol“, sagt Patricia. Eigentlich haben sie auch einen Dringlichkeitsschein. Aber dass das in der Wohnungsnotstadt Hamburg nichts zu sagen hat, wissen sie. Aber Markus und Patricia haben wenigstens ihren Hund – und sich. „Wir sind seit anderthalb Jahren zusammen“, sagt Marcus. „Und wir lieben uns noch so wie am ersten Tag.“ Die vier wirken, als würden sie sich auf einen Campingurlaub vorbereiten. Aber sie wissen selbst: Platte machen ist kein Campingurlaub. Der eher schmächtige Marcus zeigt seine vernarbte Hand. „Da musste ich meine Frau verteidigen“, sagt er. Einmal, da wurden sie nämlich beklaut und Patricia wurde begrabscht. „Das kann man ja nicht einfach hinnehmen“, sagt Marcus, der nicht gerade so wirkt, als wäre er ständig auf Streit aus.
Text: Birgit Müller
Fotos: Mauricio Bustamante