Hinz&Künztler Fred Hauschka versuchte dreimal, aus der DDR abzuhauen. Kurz bevor die Mauer fiel, gelang ihm die Flucht vor einem System, das ihm seine Zukunftschancen auch im goldenen Westen gründlich vermasselt hat
(aus Hinz&Kunzt 200/Oktober 2009)
Er ist ja doch noch ein ordentlicher sozialistischer Bürger geworden. Er geht einer geregelten Arbeit nach, zeigt sich zuverlässig und fleißig, übererfüllt die an ihn gerichteten Leistungsnormen sogar, damit es weiter aufwärtsgeht mit dem Arbeiter- und Bauern-Staat. Nur besucht er leider noch immer diese Bibelstunden – Fred Hauschka wird dieses „Zeugnis“ erst nach dem Fall der Mauer lesen. Er findet es in seiner Stasi-Akte, notiert kurz vor seiner Flucht in die Bundesrepublik.
Fred Hauschka wird 1965 im Städtchen Lübbenau im Land Brandenburg geboren und wächst hier auf. „Meine Kindheit war ganz schön“, sagt er. Seine Eltern sind mit dem Leben in der DDR im Großen und Ganzen zufrieden: „Wir waren zu Hause eine kinderreiche Familie, meine Eltern hatten Arbeit, für uns Kinder wurde gesorgt.
Kindergarten war umsonst, Schulspeisung und Schulbücher. Eintritt im Schwimmbad, im Kino, alles war für uns frei“, erinnert er sich.
Alles ändert sich, als er 14 wird und beginnt, sich politisch zu interessieren. Schnell liegt er mit den Lehrern, der Schule, dann der Staatssicherheit über Kreuz. Er will nicht akzeptieren, dass es einigen wenigen gut geht, während die anderen hart malochen müssen. Dass nur einige ausgewählte Funktionäre in den Westen reisen dürfen. Er will erst recht nicht hinnehmen, dass man nicht offen seine Meinung sagen darf und dass Andersdenkende wie er polizeilich überwacht werden. Auch weigert er sich, der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beizutreten, der Jugendorganisation der SED. Er wolle nicht in die HJ, erklärt er dem Mitarbeiter der Staatssicherheit, zu dem er vorgeladen wird. Als der ihn zusammenbrüllt, ist Fred Hauschka um eine Antwort nicht verlegen: „Wieso, das ist doch die Honecker-Jugend, abgekürzt HJ, oder?“
Immer wieder gerät er mit der Staatsmacht aneinander; ständig wird er vorgeladen. Er darf nicht nach Ostberlin fahren, nur weil er mal gesagt hat: „Eines Tages springe ich über die Mauer.“ Als ihn bei einer Befragung im Zimmer seines Schuldirektors ein Stasi-Beamter schlägt, sagt der Direktor nur: „Also, ich hab nichts gesehen.“ Seine Klassenkameraden sagen: „Du hast ja recht, aber was sollen wir machen?“ Unterstützung findet er nur bei der örtlichen Kirchengemeinde, wo sich einige wenige Oppositionelle unter dem Schutz des Glaubens versammeln. Dann zieht der Staat die Schlinge zu: „Per Gerichtsbeschluss wurde mir mitgeteilt, dass ich als nicht würdig angesehen wurde, in einem sozialistischen Land eine sozialistische Lehrausbildung zu erhalten.“ Damit ist klar: Fred Hauschka wird nach Abschluss der Hauptschule nie eine Lehre machen können. Auch eine weitere Schullaufbahn, erst recht das Abitur, wird ihm verweigert werden.
Bald plant er, die DDR zu verlassen: „Nicht über die innerdeutsche Grenze wollte ich, so lebensmüde war ich nun auch nicht.“ Er will es in der Tschechoslowakei versuchen. Dort gibt es einen kleinen Zipfel, wo die ostdeutsche, die westdeutsche und die tschechische Grenze aufeinandertreffen. Er wird 18 Jahre alt, es muss ihm nur gelingen, in die Tschechoslowakei einzureisen. Doch schon auf dem Weg dorthin wird er festgenommen. „Verrat“, sagt er knapp.
Heute weiß er, dass sein jüngerer Bruder sich verplappert hat: „Er wollte sich für drei Jahre bei der Armee verpflichten. Er wollte anschließend studieren und ein angenehmes Leben führen“, erzählt Fred Hauschka. Doch bei einem Bruder, der offen gegen den Staat argumentiert, wird er erst mal vorgeladen – und ausgequetscht, auf die väterliche Tour: Was denn der Fred so mache und noch mehr, was er vorhabe, wollen sie wissen. Fred Hauschka kennt das, wenn sie abwechselnd auf einen einschreien und dann wieder ganz verständnisvoll fragen, was einen bedrückt – und man für einen kurzen Moment geneigt ist zu glauben, der da vor einem steht, meint es vielleicht doch ausnahmsweise gut. Fred Hauschka macht seinem Bruder heute keinen Vorwurf. Wegen versuchter Republikflucht wird er damals zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt.
Als er rauskommt, hat er mit seinem Land endgültig gebrochen. Für dieses System will er nicht arbeiten. Unterstützung erhält er von der Kirche, die seine Miete übernimmt und ihn mit Lebensmitteln versorgt. Sein Ausreiseantrag wird ohne Begründung abgelehnt. Er kann nicht darauf hoffen, dass ihn die Bundesrepublik freikauft: „Ich war nicht prominent, ich hatte keinen Beruf, ich hatte nicht studiert – für den Westen war ich uninteressant.“ Er plant seinen nächsten Fluchtversuch, wieder über die tschechische Grenze.
Diesmal ist er nicht allein: Mit ihm unterwegs ist ein guter Bekannter. Die Flucht endet tragisch: Sie werden kurz vor der Grenze gestellt. Auf seinen Mitflüchtling wird geschossen: „Er ist nicht gleich gestorben. Sie haben ihn verbluten lassen; sie haben ihm ärztliche Hilfe verweigert.“ Fred Hauschka schluckt und senkt den Blick. Es fällt ihm nicht leicht, darüber zu reden.
Zynischer- und paradoxerweise verschafft ihm das eine vergleichsweise geringe Haftstrafe: „Sie wollten, dass ich die Klappe halte; dass ich nicht erzähle, was da passiert ist.“ Nach tagelangen Verhören geht er für ein Jahr ins Gefängnis. Zuletzt sitzt er in Leipzig ein, wo er auf dem Schlachthof arbeiten muss. Andere Gefangene nehmen ihn zur Seite: Wenn er wieder draußen sei, solle er sich zurückhalten. Er solle arbeiten gehen und nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand rennen. Er solle ein braver Junge sein. Sonst habe er keine Chance.
Fred Hauschka hält sich dran. Nach der Entlassung wird er Beifahrer bei einer Wäscherei: „Politisch habe ich die Füße stillgehalten.“ Er wird im Sommer 1988 für sein gutes Arbeiten ausgezeichnet, darf zur Belohnung an einer Reise seines Betriebes nach Prag teilnehmen. Sein Chef und sein Abteilungsleiter bürgen für ihn. Als er mit seinem Chef in den Zug steigt, sagt der: „Ich weiß ganz genau, was du vorhast.“ Fred Hauschka antwortet: „Der erste Halt nach der Grenze ist mein Halt. Und Tschüss!“
Diesmal klappt es. „Wenn sie mich ein drittes Mal erwischt hätten, ich wäre für fünf bis sieben Jahre eingefahren.“ Als der Zug ohne ihn in Prag ankommt, steht da schon die Staatssicherheit. Sein nun ehemaliger Chef wird zu vier Jahren Haft verurteilt; sein nun ebenfalls ehemaliger Abteilungsleiter zu zwei Jahren. Wegen Beihilfe zur Republikflucht.
Fred Hauschka kommt in Bayern in ein Auffanglager, betritt das erste Mal in seinem Leben einen westlichen Supermarkt: „So volle Regale hatte ich in meinem Leben noch nie gesehen.“ Am Anfang lesen ihm die Behörden jeden Wunsch von den Lippen ab: „Ich wurde behandelt wie Gott in Frankreich.“ Doch das kann nur kurz darüber hinwegtäuschen, dass seine Startbedingungen im Westen schlecht sind: Er hat keinen Schulabschluss, er kann keine Ausbildung vorweisen. Er ist schon 31 Jahre alt, da will ihm das Arbeitsamt eine Lehre vermitteln und finanzieren. Nur kann er keine Zeugnisse vorzeigen. Seine Wohnung in Lübbenau hat man damals noch am Abend nach seiner Flucht versiegelt und dann leer geräumt. Als er bei seiner ehemaligen Schule nach Kopien seiner Zeugnisse fragt, sagt man ihm: „Sie sind hier nie zur Schule gegangen.“ Fred Hauschka holt tief Luft und sagt: „Man hatte mich regelrecht ausgelöscht.“ Es wird nichts mit der Lehre.
Heute wohnt Fred Hauschka in einer Kirchenkate. Er hat einen Job, bezuschusst von der Arbeitsagentur, begrenzt auf zwei Jahre zwar, aber immerhin. Er geht noch mal die Stationen seines Lebens durch: „Wenn ich gewusst hätte, dass nur ein Jahr nach meiner Flucht die Mauer fällt, ich hätte gewartet“, sagt er.
Doch da gibt es noch etwas anderes, was ihn beschäftigt, und dafür geht es zurück zum 12. August 1961 in Berlin: Der Mann, der sein Vater werden wird, arbeitet damals wie viele DDR-Bürger in Westberlin, im Wedding. Auch seine zukünftige Mutter ist im Westteil der Stadt. Als die beiden abends zusammen zurück nach Ostberlin fahren, sehen sie an der Grenze die Vorbereitungen zur Grenzschließung, die noch in der Nacht erfolgen soll. Sie kehren nicht um, sie fahren weiter, fahren nach Hause. „Wenn sie doch nur dageblieben wären!“, sagt Fred Hauschka. Wer weiß, wie sein Leben verlaufen wäre.
Text: Frank Keil
Foto: Mauricio Bustamante