Das Ende als Anfang

Eine Insolvenz muss für einen Betrieb nicht das Aus bedeuten. Mit einem guten Konzept und viel Engagement kann das Verfahren ein Neustart sein: wie bei der Konditorei Andersen und Druckerei Neef+Stumme

(aus Hinz&Kunzt 198/August 2009)

„Wir müssen etwas Neues wagen“
Unternehmen gerettet, 16 Arbeitsplätze verloren: Die meisten Beschäftigten der Konditorei Andersen können aufatmen

War was? Im Stammhaus an der Wandsbeker Marktstraße sieht alles aus wie immer: Üppige Torten, Brote, Pralinen und Gebäck füllen die Vitrinen. Der Besucher geht unter dem Riesenlüster die ausladende Treppe in den ersten Stock hinauf und wird so freundlich von einer Kellnerin begrüßt, als kenne man sie seit Ewigkeiten. An einem der Tische sitzen Konditor Adolf Andersen (73) und seine Frau Sigrid
Kraeft und schmieden Pläne – wie immer.
Eine große Renovierung steht an und vor allem eine Erweiterung des Angebots: In Zukunft wollen die Andersens auch leckere Canapés liefern. Überlegt wird, wie eine entsprechende Werbekampagne aussehen könnte. Eigentlich wirkt alles ganz normal – und ist doch komplett anders als Anfang des Jahres.
Am 27. Januar melden die Andersens Insolvenz an. Zunächst erfährt niemand davon, nicht mal Sohn Lars, der im Betrieb eine leitende Funktion hat, erst recht nicht die Mitarbeiter. Der Schritt fällt den Inhabern schwer, und erst als sie ihn vollzogen haben, informieren sie Lars. Die 66 Mitarbeiter erfahren es bei der zwei Tage später einberufenen Betriebsversammlung vom Insolvenzverwalter.
Danach tritt so etwas wie eine „Duldungsstarre“ ein, wie Lars Andersen den Zustand im Haus beschreibt. Denn wirklich miteinander geredet wird in der Zeit nach dem Insolvenzantrag nicht. Jedem geht seine eigene Situation durch den Kopf: „Die Stimmung war gedrückt bei allen“, sagt Yvonne Wieck ein paar Monate später. Die 28-jährige Meisterin ist schon seit Jahren die rechte Hand von Adolf Andersen. Aber selbst ihr passierte es, „dass ich rumgelaufen bin und dachte: Was wollte ich noch gleich?“
„Da steht man auf einmal ganz empfindlich da“, sagt der sonst so coole Geselle Andre Creskewitz. „Ich glaube nicht, dass es schwer für mich wäre, etwas Neues zu finden“, sagt der 47-Jährige. „Aber es ist schwer, eine Arbeit zu finden, bei der man mit den Abläufen, mit der Qualität und der Bezahlung so zufrieden ist, wie ich es hier bin.“
Dr. Gideon Böhm wird vom Gericht als vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt. Vorläufig deshalb, weil erst abgeklärt werden muss, ob eine Insolvenz tatsächlich vollzogen wird oder es nicht besser ist, das Unternehmen zu verkaufen. Böhm ist Teilhaber der Kanzlei Böhm&Münzel. Von Anfang an ist der 41-Jährige vorsichtig optimistisch. Nach ersten Analysen konstatiert er Ende Januar: „Der Kern des Betriebes ist trotz Liquiditätsproblemen gesund. Es sollte daher gelingen, den traditionsreichen Betrieb zu retten.“
Böhms erster Einsatz: die Betriebsversammlung, auf der die Mitarbeiter informiert werden. Auch darüber, dass sie jetzt ihr Gehalt vorübergehend von ihm beziehen. Eigentlich kommt das Geld ja von der Arbeitsagentur. Aber die zahlt erst nach drei Monaten die Hilfe aus, was bedeutet, dass der Insolvenzverwalter bis zu diesem Zeitpunkt selbst einen Kredit aufnehmen muss.
Nach einer Betriebsanalyse ist ziemlich schnell klar: Die Filialen im Hamburger Hof, im Sofitel und in Schenefeld arbeiten unrentabel. Also bezahlt Insolvenzverwalter Böhm die Miete und Telefonkosten für diese Objekte nicht mehr.
Es gibt Entscheidungen, die die Andersens längst hätten treffen müssen, das wissen sie. Aber sie konnten sich einfach nicht trennen. „Der Hamburger Hof lief seit langem nicht mehr richtig“, sagt Seniorchef Andersen. Die Miete war viel zu hoch, der Umsatz ging um 40 Prozent zurück, trotzdem mussten die Cafés bis 20 Uhr offen sein. Ähnlich sah es in den anderen besagten Filialen aus. Keine Bank wollte die Andersens mehr haben.
Hauptaufgabe des Insolvenzverwalters: zu sehen, ob es Interessenten mit einem guten Sanierungskonzept gibt oder ob der Betrieb zerschlagen werden muss. Im April fällt die Entscheidung. Wieder wird eine Betriebsversammlung einberufen. Die Belegschaft zittert. Insolvenz­verwalter Böhm hat eine gute Nachricht und eine schlechte. Die gute: Die Konditorei Andersen ist quasi gerettet, die neue Gesellschaft heißt Andersen Chocolatier Conditor GmbH. Das Stammcafé mit Backstube und die Filiale im Wandsbeker Quarree bleiben erhalten – unter der Leitung von Sigrid Kraeft und ihrem Sohn Lars Andersen. Adolf Andersen wird Berater.
Die Geschichte hätte auch ganz anders ausgehen können. Denn ein Insolvenzverwalter entscheidet nicht nach Sympathie oder sozialen Fragen, sondern danach, wie viel für die Gläubiger rausspringt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Andersens keine Bank mehr hatten, kommt einem Laien der Zuschlag vielleicht ungereimt vor. Böhm erklärt das so: Es kann sein, dass ein Interessent zwei Millionen Euro bietet – das ist eine fiktive Summe – , aber nur zwei Mitarbeiter übernehmen will. Doch sei das unrentabler, als wenn ein Interessent nur eine Million – auch das ist fiktiv – bietet und dafür alle Mitarbeiter übernimmt.
Die schlechte Nachricht: Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Böhm händigt bei der Mitarbeiterversammlung 16 Umschläge mit Kündigungen aus. Kellner Rumil Kapoor erzählt: „Das tat unheimlich weh. Viele haben geweint, ich auch.“ Er zögert: „Wissen Sie“, sagt der 25-Jährige, „fünf Jahre habe ich im Hamburger Hof gearbeitet, ich war fast verliebt in die Gäste und in die Kollegen.“ Er selbst darf bleiben, ist jetzt Kellner im Stammhaus.
Immerhin: Alle, die bleiben, bekommen zwar neue Verträge, dürfen aber laut Gesetz finanziell nicht schlechter gestellt werden als vorher. „Wir haben noch mal Schwein gehabt“, sagt Geselle Andre Creskewitz. Aber die Stimmung ist verhalten, denn noch ist die Firma nicht über den Berg.
„Wir haben in den letzten Jahren zu wenig miteinander geredet“, sagt Lars Andersen, und es klingt wie ein Mantra. „Und wir haben das Know-how der Mitarbeiter zu wenig genutzt.“ Das ist das, worauf er in Zukunft mehr Wert legen will. Und das ist sicher außer den neuen Produkten und der Renovierung das, worauf die Mitarbeiter schon lange gewartet haben. „Ich habe das Gefühl, dass ich auch mehr Verantwortung habe“, sagt Meisterin Yvonne Wieck. „Wir alle wissen: Damit wir es schaffen, müssen wir etwas Neues wagen – und dazu habe ich auch total Lust.“
Dass Adolf Andersen offiziell nicht mehr der Chef ist, beunruhigt übrigens niemanden – aus gutem Grund. Er steht nach wie vor jeden Tag in der Backstube. Und was noch wichtiger ist: „Mein Vater wird immer das Gesicht der Konditorei Andersen bleiben“, sagt sein Sohn Lars, „selbst wenn mein Sohn eines Tages den Betrieb übernehmen sollte.“

Birgit Müller

Ein Insolvenzverwalter übernimmt für einen gewissen Zeitraum die Rechte und Verpflichtungen des Firmen-Inhabers. Bezahlt wird er vom Staat nach einer festgelegten Gebührenordnung. Die Höhe der Gebühren richtet sich nach der Insolvenzmasse. Infos unter www.foerderland.de/859.0.html

Andersen Chocolatier Conditor GmbH
Hauptgeschäft: Wandsbeker Marktstraße 153, Telefon: 68 94 64 0,
Filiale Quarree Wandsbek Markt: Quarree 8-10, Telefon: 41 09 71 57,
Internet: www.cafe-andersen.de

Wenn die Bank den Geldhahn zudreht
Die Druckerei Neef+Stumme schrieb schwarze Zahlen – trotzdem musste sie Insolvenz anmelden

Im Verkaufsraum der Druckerei Neef +Stumme in der Speicherstadt liegen die Aufträge gut sortiert in einem Regal neben der Tür: Das politische Kulturblatt Cicero und das edle Wirtschaftsmagazin brand eins reihen sich neben Hochglanz-Katalogen des Unterhaltungselektronik-Herstellers Bang&Olufsen und des Edel-Kaufhauses KaDeWe ein. Gedruckt wurden sie in Wittingen, einer niedersächsischen Kleinstadt nahe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Dort wurden sie auch in der Buchbinderei geheftet, alles im selben Haus. „Wir liefern Premium-Printing für Premium-Produkte“, sagt die geschäftsführende Gesellschafterin Dorothy Stumme.
Dreieinhalb Jahre ist es her, dass Alice Schwarzer so begeistert von der „exzellenten Druckqualität, insbesondere bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen“ des Hauses war, dass sie den Druckauftrag für die Zeitschrift Emma an Neef+Stumme vergab. Gerade sechs Monate ist es her, dass die Druckerei einen Insolvenz­antrag stellen musste, weil die 350 Arbeitsplätze des Unternehmens gefährdet waren. Am Montagmorgen, dem 19. Januar 2009, ist die Welt noch in Ordnung. Die firmeninterne Buchbinderei muss modernisiert, alte Kredite müssen noch abgezahlt werden, weil die Firma schnell gewachsen ist. Doch das Finanzierungskonzept steht. Die Maschinen in der Druckerei laufen auf Hochtouren. 2006 und 2007 schrieb das Unternehmen schwarze Zahlen, 2008 machte es 60 Millionen Euro Umsatz.
Doch an diesem Montag zieht die Zürich Versicherung ihre Zusage für eine Warenkreditversicherung in Höhe von 2,5 Millionen Euro zurück. Sie schützte bis dahin die zwei großen Papierlieferanten vor Zahlungsausfall, hätte die Druckerei nach Erhalt der Ware die Rechnung nicht begleichen können.
Plötzlich soll Neef+Stumme den weißen Rohstoff wegen der fehlenden Versicherung nicht erst nach 30 bis 90 Tagen bezahlen, sondern im Voraus. Aber wer gibt das Geld? Genügend eigene Mittel hat die Firma seit der Expansion nicht. Große Banken wie IKB und HSH Nordbank finanzieren seit Jahren neue Projekte der Druckerei mit – doch genau diese Kreditinstitute müssen Milliardenverluste infolge hochspekulativer Geschäfte decken.
So führt die fehlende Versicherung genau dazu, wovor sie schützen sollte: Neef+Stumme droht die Zahlungsunfähigkeit. Am 21. Januar stellt die Firma beim Amtsgericht Insolvenz-antrag. „Ein harter Schlag“, sagt Dorothy Stumme. Die Geschäftsleitung ruft am Tag darauf die Mitarbeiter zu einer Betriebsversammlung zusammen. „Wir glauben weiterhin an Neef+Stumme“, sagt Geschäftsführer Andreas Bauer ins Mikrofon und schaut auf die 350 Mitarbeiter, die mit verschränkten Armen neben den Druckmaschinen stehen: „Wer ist bereit, mit uns zu kämpfen?“ Nach einer Weile geht ein Arm hoch, dann noch einer. Mit einem Mal recken fast alle eine Hand in die Höhe. Ein dreimonatiger Überlebenskampf beginnt.
Auch Bernd Zöllmann hebt seinen Arm. Seit 30 Jahren arbeitet der 48-jährige Offsetdrucker bei Neef+Stumme. 1979 machte er dort die Lehre, gründete später eine Familie mit zwei Kindern, kaufte sich ein Haus. Bernd Zöllmann ist geschockt: „Wenn die Firma dichtmacht“, weiß er, „wird es bitter.“ Mit seinem Arbeitskollegen Martin de Mol, mit dem er seit mehr als 20 Jahren an der Maschine steht, überlegt er, was er tun kann.
In der Zwischenzeit gründet Firmensprecherin Bärbel Wetenkamp eine Betriebszeitung, nennt sie „Intern“ und informiert in Interviews und Artikeln („Insolvenz bedeutet wörtlich ‚nicht flüssig‘“) über die Lage. Auf der Website richtet sie eine eigene Rubrik ein, die über die aktuellen Entwicklungen informiert.Gesellschafterin Dorothy Stumme informiert telefonisch die Kunden. Inzwischen schreiben Auftraggeber Mails an die Druckerei oder rufen an: „Wir bleiben bei euch.“ Die Manager von Neef+Stumme legen den Banken Bücher und Bilanzplanungen vor. Die Kreditinstitute fordern immer weitere Modellrechnungen.
Offsetdrucker Bernd Zöllmann wird von Nachbarn angesprochen: „Wir haben gehört, du wirst arbeitslos …“ Gemeinsam mit Kollege de Mol durchstöbert er das Internet, bis sie auf eine Geschichte über einen Fahrradhersteller stoßen: „Mitarbeiter haben Anteile gekauft, als er fast bankrott war“, erfahren sie.
Die beiden Drucker schlagen das Modell dem Betriebsratsvorsitzenden vor. Doch die Idee hieße, dass viele Mitarbeiter hohe Kredite aufnehmen müssten, um die fehlenden Millionen aufzubringen. Nach langen Diskussionen entsteht daraus ein neuer Vorschlag: Wie wäre es, wenn die Belegschaft das Geld, das jeder erübrigen kann, der Firma leiht und es gut verzinst später wiederbekommt?
Der Betriebsrat macht eine schriftliche Umfrage: Mehr als 500.000 Euro würden die Drucker ihrem Arbeitgeber leihen. „Das hat für die Verhandlungen mit den Banken neuen Schwung gegeben“, sagt Betriebsratsvorsitzender Rolf Malzahn. „Die haben gesehen, wir stehen hinter dem Unternehmen.“
Kurz nach Ostern kommt die erlösende Nachricht: Die Sparkasse Gifhorn-Wolfsburg und die IKB stellen die nötigen Mittel bereit. Dorothy Stumme und ihr Mitgesellschafter Andreas Bauer machen, auch mit Hilfe eigener Mittel, einen sogenannten asset deal: Sie kaufen die Wirtschaftsgüter (assets) der Druckerei und bringen sie in eine neue Firma ein. Dadurch können sie die wertvollen Bestandteile wie die Maschinen retten. „Wir haben es geschafft“, sagt Dorothy Stumme erleichtert.
Doch ihre Stimmung ist nicht ungetrübt. Die neue Firma kann nur 250 der 350 Mitarbeiter übernehmen. 100 Arbeiter müssen entlassen werden. Sie kommen in eine Transfergesellschaft, die ihnen – bei höheren Bezügen als dem Arbeitslosengeld – helfen soll, durch Weiterbildung einen neuen Job zu finden. Drucker Bernd Zöllmann wird weiterhin in der Druckerei arbeiten. Er bedauert, dass nicht alle seine Kollegen bleiben können. „Aber ich freue mich, dass wir den größten Teil der Arbeitsplätze durch diese Maßnahme erhalten.“
Um sich künftig besser am Markt behaupten zu können, hat Neef+Stumme einen neuen Gesellschafter gewonnen: die Print Media Group GmbH. Unter dem Dach der Finanzholding sollen künftig drei Druckereien gemeinsam als Einkaufsgemeinschaft agieren – und so Kosten sparen.

Die Druckerei Neef+Stumme hat die beiden Sonderhefte von Hinz&Kunzt, „Hamburger KochKunzt“ und „Hamburger Schokoladenseiten“, unterstützt. Mehr Infos über das Unternehmen im Internet unter www.neef-stumme.de

Joachim Wehnelt

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