Kleiner Mann ganz groß

Im Fernsehen gibt Bjarne Mädel den langweiligen Durchschnittstypen. Ist er aber gar nicht. Misha Leuschen sprach mit dem Schauspieler über seine Jugend in Nigeria, Lampenfieber und sein Heimweh nach Hamburg

(aus Hinz&Kunzt 195/Mai 2009)

Morgens um zehn in der Schanze. Die Sonne scheint, verschlafene Menschen sitzen schweigsam über ihrem ersten Kaffee, in den Kneipen wird rumpelnd das Bier für den Abend angeliefert. „Saal II“ hatte Bjarne Mädel als Treffpunkt vorgeschlagen, doch da stehen noch die Stühle auf den Tischen, ein müder Mann kehrt lustlos den Fußboden. Na toll.

Also halte ich nach einem langweiligen Blonden im Pinneberg-Outfit Ausschau, einem Durchschnitts­typen mit Kurzarmhemd eben, wie Bjarne Mädel ihn in der Serie „Der kleine Mann“ so beklemmend echt spielt. Erst auf den dritten Blick bringe ich den zerknautschten Menschen im Autonomen-Kapuzenlook, der hinter mir an der Laterne lehnt, damit deckungsgleich. „Tja, wenn man so blasse Langweiler spielt, dann denken manche, man sei so“, grinst der Schauspieler, die Morgenzigarette im unrasierten Gesicht.
Die Spießer und Normalos spielt der blonde Reinbeker so überzeugend, dass er sehr gut im Geschäft ist. Als zwanghafter Bürostreber Ernie ist er in der vierten Staffel der Erfolgs-Comedy „Stromberg“ dabei und hat jetzt sogar eine eigene Serie: „Der kleine Mann“. Da läuft allerdings nicht alles rund: Er hat einen schwierigen Sendeplatz und daraus resultierende schlechte Quoten. Umso mehr freut er sich, dass er für den Bayerischen Fernsehpreis nominiert wurde.
„Klar ist das eine komfortable Situation, aber ich kenne auch den Moment, wenn vorm Wochenende am Automaten die EC-Karte eingezogen wird und du nix in der Tasche hast“, sagt Mädel. Mit wenig auszukommen, fällt ihm nicht schwer: „Wenn man mal erlebt hat, unter welchen Umständen Menschen leben müssen und dabei trotzdem nicht ihren Lebensmut verlieren, dann begreift man, dass das, was wir hier haben, nicht selbstverständlich ist.“ Gelernt hat er das schon als Teenager. Mit 15 lebte er mit seinem Vater, einem Bauingenieur, für ein Jahr in Nigeria. „Mein Vater hat mich am Flughafen in Lagos abgeholt. Wir sind durch das Verkehrschaos und die Müllberge durchgefahren, und auf einmal lag da jemand tot auf der Straße. Der lag da schon zwei Wochen, weil er keine Verwandten hatte und sich keiner damit belasten wollte. Da war ich schon sehr geschockt.“
Genauso nachhaltig beeindruckt hat ihn dort jedoch die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen. „Ich hab damals im Camp gelebt, bin auf eine deutsche Schule gegangen. Es war verboten, das Camp zu verlassen, weil es angeblich viel zu gefährlich war – aber wir sind trotzdem gegangen und haben unsere nigerianischen Freunde zu Hause besucht. Die hatten nix, aber für uns haben sie was gezaubert. Da brutzelte immer was, auch wenn es nur Reis mit Sauce war, damit man dem Besuch was anbieten konnte.“
Seit dem Aufenthalt in Afrika habe er mehr Aufmerksamkeit für Menschen, die weniger haben. Aber man könne deshalb auch nicht ständig ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich etwas leiste. „Man versaut sich ja sein ganzes Lebensglück, wenn man ständig denkt: Darf ich das jetzt? Trotzdem ist es mir bewusst, und vielleicht genieße ich deshalb auch intensiver, weil ich dankbar bin dafür, dass ich das jetzt kann.“
Vor zwei Jahren zog der 41-Jährige nach Berlin-Kreuzberg, aber noch immer hängt sein Herz an Hamburg. Früher sei dort sein Zuhause gewesen, wo er seine Sachen hatte. Mittlerweile hat er heftig Heimweh: „Wenn ich hier ankomme und die Stadt mich so umarmt …“, seufzt er. Und dann ist da ja auch die Sache mit dem HSV. „Mit fünf Jahren war ich zum ersten Mal mit Papa im Stadion“, erzählt er und ist plötzlich richtig wach. „Mit Flutlicht ist das wie ’ne UFO-Landung. Und dann diese Energie im Stadion! Die überträgt sich vom Platz auf 50.000 Leute im Stadion. Das kann einen schon begeistern.“
Er selber habe als Junior auch mal vor 22.000 Leuten gespielt, bei einem Vorspiel zu einem Europapokalspiel in Rotterdam. „Das war Wahnsinn! Öffentlichkeit kann echt zur Droge werden. Stell dir mal Robbie Williams vor, der spielt vor 600.000 Leuten. Irre! Da kann man schon die Bodenhaftung verlieren.“ Auch er kennt dieses Kribbeln im Bauch, das zu seinem öffentlichen Beruf dazugehört, das Lampenfieber, bevor beim Theater der Vorhang aufgeht. „Ich hatte bei meiner ersten Premiere hier im Schauspielhaus vor 1000 Leuten einen Gang von hinten nach vorn auf der Bühne. Im Zuschauerraum war das Licht noch an – da wurde mir echt ganz anders. Aber das hat sich geändert, und nach fünf Jahren konnte ich das richtig genießen!“ Dass ihm Millionen im Fernsehen beim Arbeiten zusehen, erscheint ihm dagegen im Vergleich unwirklich: „Das ist ja anonym.“
Am meisten gibt er immer noch auf die Meinung von Freunden, Menschen, die ihn erden. Denen leiht er auch mal Geld und vertraut darauf, dass er es schon wiedersehen wird, wenn’s auch erst in zwanzig Jahren ist. „In einem Fall läuft die Frist noch“, grient er – und hält es tatsächlich für möglich, dass der alte Freund sich an ihre Abmachung halten wird.
Sein grundsätzliches Vertrauen in Menschen, eine große Offenheit und Freundlichkeit machen seinen Charme aus und sind sein Kapital. Ohne Zögern gibt er zu, dass er natürlich auch mit dem Verwerterblick des Schauspielers Menschen be-obachte und ihre Geschichten absorbiere. Aber vieles geht ihm dabei auch unter die Haut. In Hamburg treffe er seit Jahren immer wieder auf „den Läufer“, wie er ihn nennt, einen Mann aus Persien: „Groß und schlank, mit Seesack und grüner Jacke, den triffst du in der Schanze oder in St. Georg – einfach immer. Der rennt wie auf der Flucht. Ich habe ihn schließlich mal gefragt, wo er hin wolle, wo er ankommen wolle. ‚In der Ständigkeit‘, hat er gesagt.“ Der Mann sei als Soldat im Krieg gewesen, habe schlimme Dinge erlebt und ertrage es nicht, in einer Wohnung zu sein: „Aber das ist sein Ziel.“
Was sein eigenes Ziel im Leben ist? So genau kann er das gar nicht benennen. Einem Ziel sei er jedenfalls schon näher gerückt, grinst er plötzlich glücklich wie ein kleiner Junge: „Als neues Ehrenmitglied beim HSV habe ich die Mitgliedsnummer 60.000. Das ist wie Ostern und Weihnachten gleichzeitig!“

Misha Leuschen

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