Wer vermisst schon einen Obdachlosen? Spurensuche nach einem Mann, der von einem Tag auf den anderen einfach verschwand
(aus Hinz&Kunzt 195/Mai 2009)
Kann ein Mensch in dieser Stadt spurlos verschwinden? Ohne die kleinste Hinterlassenschaft, ohne einen Beweis, dass er überhaupt hier unter uns gelebt hat? Man kann sich das nicht wirklich vorstellen. Da gibt es doch diesen (dummen) Spruch „Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare“. Einen Totenschein, der in irgendeiner Behörde abgeheftet wird, den hinterlässt doch wohl jeder.
Und genau das macht die Suche nach Lutz Jeuthe so verstörend. Der Mann ist seit sechs Jahren verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt. Einfach weg.
Als Lutz Jeuthe zuletzt gesehen wurde, war er 69 Jahre alt, alkoholkrank, obdachlos. Er trug einen zauseligen Bart, einige Tätowierungen auf den Armen: eine Frau, eine Schlange, ein Schwert, ein Hund. Er hinterlässt: nichts. Nicht mal einen Totenschein. Alles was von ihm blieb, ist eine Vermisstenanzeige auf der Davidwache.
Aufgegeben hat diese Anzeige damals im September 2002 Helga Hinz. Frau Hinz ist eine praktisch denkende Frau, eine, die zupackt. Die handelt, anstatt lange rumzureden, eine, der man vertrauen kann. Das muss sich auch Lutz Jeuthe gedacht haben, als ihm Helga Hinz vom Gericht als Betreuerin zugewiesen worden war. Fünf Jahre lang – von 1997 bis zu seinem Verschwinden – kümmert sich die Berufsbetreuerin um den alkoholkranken, obdachlosen Mann. Sie verwaltet seine Sozialhilfe, kümmert sich um Behörden, stellt Anträge.
„Er war ein ungewöhnlich netter Mensch“, erinnert sich Helga Hinz. „Er war immer höflich und wurde nie ausfallend, selbst wenn er sturzbetrunken war.“ Wegen seiner gutmütigen Art habe der 69-Jährige unter Obdachlosen den Spitznamen „Opa“ gehabt. „Opa“ – das könnte ein alter, schrulliger Kauz sein. Ein lieber harmloser Kerl, der irgendwo Enkel hat, Rente, einen gemütlichen Lebensabend. Lutz Jeuthe hatte nichts von alledem. Keine Rente, keine Familie. Niemanden. Und gemütlich war sein Leben schon gar nicht.
Als Helga Hinz Lutz Jeuthe kennenlernt, ist der bereits seit Jahren ein schwer kranker Mann. Der Alkohol zerfrisst seinen Körper, das harte Leben auf der Straße zehrt an der Gesundheit des fast 70-Jährigen.
In einem Alter, in dem andere ihre Rente genießen, schläft er sommers wie winters unter Brücken und in Parkanlagen. Bei Regen und Schnee. Warum macht ein alter Mann so etwas? „Ins Pik As wäre er nie gegangen. Er konnte es nicht ertragen, in geschlossenen Räumen zu sein“, so Helga Hinz. „Das machte ihn verrückt.“
Seine Tage verbringt Lutz Jeuthe meist auf St. Pauli. Er stromert über den Kiez, hinkend, auf eine Krücke gestützt. Er hockt – wenn er Geld hat – in einer der Kellerkneipen rund um die Talstraße, wärmt sich bei einem Kaffee bei der Heilsarmee auf oder im Haus Bethlehem. Eine kleine Rast unter christlichen Plakaten mit Sinnsprüchen: „Jesus trägt deine Last für dich“. Hat Lutz Jeuthe an Gott geglaubt … ?
Er fährt stundenlang mit der S-Bahn durch Hamburg, wird immer wieder ohne Fahrschein erwischt und wegen Schwarzfahrens verurteilt. Geldstrafen für einen 69 Jahre alten Mann, der nichts besitzt außer den Kleidern auf seinem Leib …
Seine resolute Betreuerin versucht ihn von der Straße zu holen, organisiert immer wieder die Unterbringung in betreuten Wohnanlagen. Zweimal überredet sie ihn zum Alkoholentzug, bringt ihn ins Klinikum Nord nach Ochsenzoll. Vergebens. „Er kam nicht von der Flasche los“, so Helga Hinz. „Er hat mir erzählt, dass er schon als Kind Alkohol getrunken hat. Das war wohl auch in seiner Familie das Problem. Ich hatte großes Mitleid mit diesem Menschen, der es nicht leicht hatte in seinem Leben.“
Es muss zeitweise die Hölle gewesen sein, mit quälenden Schmerzen: Immer wieder wird Lutz Jeuthe mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Er erleidet einen Magendurchbruch, hat eine schwere Kopfverletzung, nur noch ein Auge, bricht sich mehrfach die Beine. Doch jedes Mal, wenn die Ärzte seinen geschundenen Körper halbwegs zusammengeflickt haben, flieht der alte Mann aus der Klinik. Weil er im Krankenhaus nicht den Alkohol bekommt, den er braucht wie die Luft zum Atmen. Wie in Panik rennt er weg vor einem geordneten Leben.
Gab es so ein „geordnetes“ Leben jemals für Lutz Jeuthe? Viel ist nicht herauszufinden: Am 27. November 1933 wird er in Rosenhagen in Brandenburg geboren, zusammen mit einem Zwillingsbruder. Später lernt er kochen, reist als Küchenhilfe und Koch quer durch Europa, verdingt sich in Restaurants und Kneipen, meist arbeitet er schwarz. Als wäre er jederzeit auf dem Sprung, sofort bereit, zu verschwinden. „Trotzdem hab ich für ihn sogar einen kleinen Rentenanspruch rausholen können aus der Zeit“, erklärt Helga Hinz. „Doch als das bei der Rentenversicherungsanstalt durch war, war er leider schon verschwunden.“
Wahrscheinlich kannte ihn niemand so gut wie Helga Hinz. Die zweite regelmäßige Anlaufstelle von Lutz Jeuthe war die Heilsarmee. Heilsarmee-Major Olivier Chevalley erinnert sich noch gut an den alten Mann mit dem zauseligen Bart. „Das war ein ganz lieber Mensch, der niemandem etwas zuleide tat“, so Chevalley. „Er hat einen immer mit so einem unschuldigen Blick angesehen. Man konnte ihm überhaupt nicht böse sein.“
Selbst dann nicht, wenn er wieder einmal aus einer Unterkunft, die ihm ein Helfer mühselig organisiert hatte, still und heimlich verschwand. Wie ein Getriebener, immer auf dem Sprung. „Er wurde unruhig in geschlossenen Räumen“, sagt Chevalley. „Sowie er in einem eigenen Zimmer saß, wusste er nichts mit sich anzufangen, allein mit sich und seinen Gedanken.“ Chevalley glaubt, dass der Tod seines Zwillingsbruders Lutz Jeuthe endgültig aus der Bahn geworfen hat. „Sein Bruder lebte auch auf der Straße und wurde 1995 erschlagen aufgefunden. Er ist darüber nie hinweggekommen. Aber Genaueres weiß ich nicht.“
Und plötzlich verschwindet Lutz Jeuthe ganz. Die letzten, die ihn gesehen haben, sind die Ärzte und Schwestern des UKE, die ihn – wieder einmal – wegen eines gebrochenen Beins versorgen. Und – wieder einmal – stiehlt er sich aus dem Krankenzimmer, humpelt zum Ausgang und verschwindet. Doch diesmal ist es für immer. Als hätte sich ein Loch im Boden aufgetan und den alten Mann verschluckt.
Am 1. Oktober 2002 meldet Helga Hinz ihren Schützling als vermisst. „Ich dachte, vielleicht liegt er da draußen irgendwo und braucht Hilfe. Er hat sich ja oft im Eppendorfer Park aufgehalten, vielleicht hat er sich vom UKE dorthin geschleppt. Aber man hätte ihn dann ja dort finden müssen“, so Helga Hinz.
Eine Zeit lang hat sie noch die Hoffnung, dass Jeuthe in der Bahn aufgegriffen wird. „Er konnte mit dem kaputten Bein nicht weit kommen, und er fuhr ja fast immer schwarz. Da hätte er den Kontrolleuren ja mal in die Fänge geraten müssen.“ Helga Hinz sucht selbst nach dem kranken Mann. Sie fragt in Kneipen auf St. Pauli, bei der Heilsarmee – ohne Erfolg.
Dort verwahrt Olivier Chevalley noch heute ein kleines Rechenheft, in dem die Geldbeträge verzeichnet sind, die Jeuthe sich hat auszahlen lassen. Seine Betreuerin hatte das Geld bei der Heilsarmee deponiert. Höchstens zehn Euro durfte Jeuthe sich auf einmal auszahlen lassen. „Er hat noch 15 Euro bei uns“, so Chevalley. „Er wäre nie ohne sein Geld verschwunden. Ihm muss etwas zugestoßen sein.“
Dann, nach Monaten, plötzlich ein Anruf aus Frankfurt: Die Kripo hat die Leiche eines Mannes gefunden, auf den die Beschreibung von Jeuthe passen könnte. Man bittet Helga Hinz um Gegenstände aus dem Besitz von Jeuthe, um die DNA abgleichen zu können. Doch die Betreuerin hat nichts, keine Kämme, keine Kleidungsstücke. Aber Helga Hinz weist die Kripo auf Jeuthes schwere Kopfoperation und die Brüche hin. Derartige Verletzungen hatte die Leiche nicht. Die Frankfurter Spur endet in einer Sackgasse.
Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Lutz Jeuthe wäre jetzt 75 Jahre alt. Wenn er noch leben würde. Doch daran glaubt eigentlich niemand mehr, auch wenn das offiziell keiner sagt. „Ein Kripo-Beamter meinte zu mir, dass es sein könne, dass er in die Elbe gefallen sei und dort ertrank“, so Helga Hinz. „Dann wäre die Leiche von der Strömung fortgerissen worden und würde nie mehr auftauchen.“
Eine plausible Erklärung, vielleicht die einzig mögliche. Denn alles andere ist doch irgendwie nicht vorstellbar: Ein Mensch kann doch nicht einfach so verschwinden, ohne jede Spur, so als hätte es ihn nie gegeben. Nicht in dieser Stadt. Oder?
Petra Neumann
Noch hat die Polizei die Akte Lutz Jeuthe nicht geschlossen. Das geschieht erst 30 Jahre nach der Vermisstenmeldung oder wenn der Vermisste das 90. Lebensjahr vollenden würde.
Wer irgendetwas über das Schicksal von Lutz Jeuthe weiß, sollte sich unter der Hinweistelefonnummer der Polizei, 428 65 67 89, direkt bei der Davidwache oder bei der Redaktion von „Hinz&Kunzt“ unter Telefon 32 10 83 11 melden.